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Zitieren als:
BVerfG, Beschluss vom 03.04.2020 - 2 BvR 1838/15 - Asylmagazin 6-7/2020, S. 221 ff. - asyl.net: M28438
https://www.asyl.net/rsdb/M28438
Leitsatz:

Die Prüfung verfolgungserheblicher Glaubensbetätigung ist Sache des BAMF und der Verwaltungsgerichte:

1. Die rechtlichen Maßstäbe, die das BVerwG im Anschluss an die Rechtsprechung des EuGH zur Prüfung der religiösen Verfolgung entwickelt hat, sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.

2. Nach diesen Maßstäben ist nach Feststellung einer objektiven Verfolgungsgefahr aufgrund der privaten oder öffentlichen Glaubensbetätigung in einem zweiten Schritt in subjektiver Hinsicht festzustellen, ob die Befolgung einer als verfolgungsrelevant bestimmten Glaubenspraxis ein zentrales und damit unverzichtbares Element der religiösen Identität der betreffenden Person ist.

3. Die Verwaltungsgerichte müssen und dürfen dabei lediglich der Haltung der schutzsuchenden Person zu ihrem Glauben nachgehen, nämlich der Intensität und Bedeutung der von ihr selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität. Darin liegt keine Verletzung der staatlichen Pflicht zur weltanschaulich-religiösen Neutralität.

4. Diese fachgerichtliche Prüfung im Hinblick auf die Flüchtlingseigenschaft verletzt zudem weder das in Art. 140 GG iVm Art. 137 Abs. 3 S. 1 WRV garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen oder Religionsgemeinschaften noch die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit der betreffenden Person nach Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 10 Abs. 1 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK.

5. Die Wirksamkeit einer nach kirchenrechtlichen Vorschriften vollzogenen Taufe und damit die Mitgliedschaft in einer Kirchengemeinschaft darf von Verwaltungsgerichten nicht in Frage gestellt werden, sondern muss als Rechtssache beachtet und der flüchtlingsrechtlichen Prüfung zugrunde gelegt werden.

6. Von dieser Feststellung der objektiven Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist jedoch die Frage der verfolgungserheblichen subjektiven Glaubensüberzeugung oder Glaubensbetätigung zu unterscheiden. Dabei handelt es sich gerade nicht um eine eigene Angelegenheit der Kirchen oder Religionsgemeinschaften, sondern um einen Zuständigkeitsbereich des BAMF und der Verwaltungsgerichte.

7. Bei der Prüfung der subjektiven Glaubensbetätigung ist das Grundrecht auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit in besonderem Maße zu berücksichtigen. Dabei kann im Einzelfall eine identitätsprägende Hinwendung zum Glauben auch ohne Vertrautheit der betreffenden Person mit den Lehraussagen zur jeweiligen Religionsgemeinschaft zu bejahen sein, wenn aussagekräftige und gewichtige Umstände die Prognose rechtfertigen, dass die Person sich den Verhaltensleitlinien ihres neuen Glaubens derart verpflichtet sieht, dass sie ihnen auch nach Rückkehr in ihr Heimatland folgen und sich damit einer Verfolgungsgefahr aussetzen wird.

(Leitsätze der Redaktion)

Anmerkung:

Schlagwörter: Iran, Konvertiten, Christen, Apostasie, Verfassungsbeschwerde, religiöse Verfolgung, Glaubhaftmachung, Taufe, Flüchtlingseigenschaft, Christentum, Beurteilungsspielraum, freie gerichtliche Überzeugung, rechtliches Gehör, kirchliches Selbstbestimmungsrecht, Staatskirchenrecht, Glaubensfreiheit, Religionsfreiheit, Verfolgungshandlung, Neutralitätsgebot, Sachaufklärungspflicht, freie richterliche Beweiswürdigung
Normen: GG Art. 2 Abs. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, GG Art. 4 Abs. 1 , GG Art. 4 Abs. 2, GG Art. 19 Abs. 4 S. 1, GG Art. 140, WRV Art. 137 Abs. 1, WRV Art. 137 Abs. 3, VwGO § 86 Abs. 1, VwGO § 108 Abs. 1 S. 1, AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, BVerfGG § 23 Abs. 1, BVerfGG § 23 Abs. 2, BVerfGG § 92, BVerfGG § 93a Abs. 2, GR-Charta Art. 10, EMRK Art. 9 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegen. Ihr kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu, und die Annahme ist nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig (dazu 1.) und bleibt auch in der Sache ohne Erfolg. Die Maßstäbe, die das Bundesverwaltungsgericht für die Prüfung, ob eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Religion besteht, entwickelt und in dem angegriffenen Beschluss bestätigt hat, sind von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden (dazu 2.); es ist allerdings hervorzuheben, dass bei ihrer Anwendung der Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 10 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK) in besonderem Maße Rechnung zu tragen ist (dazu 3.).

1. Soweit der Beschwerdeführer in erster Linie eine Verletzung seines Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wegen Verkennung der Bedeutung der individuellen Glaubens- und Religionsfreiheit durch den Verwaltungsgerichtshof und das Bundesverwaltungsgericht rügt, entspricht die Verfassungsbeschwerde nicht den Begründungserfordernissen der §§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG. Der Beschwerdeführer legt schon mehrere für die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Grundrechtsrüge wesentliche Unterlagen nicht vor (Protokolle der mündlichen Verhandlung beim Verwaltungsgericht, Schriftsätze aus dem erstinstanzlichen Verfahren, Schreiben der Pfarrerin). Auch wird die Möglichkeit einer Grundrechtsverletzung nicht hinreichend aufgezeigt (vgl. zu diesem Erfordernis nur BVerfGE 108, 370 <386 f.>). Der Beschwerdeführer setzt sich weder mit der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 137, 273 <305 Rn. 88>; 138, 296 <329 f. Rn. 85 f.>), des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012, C-71/11 und C-99/11, Y und Z) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (vgl. EGMR, Eweida u.a. v. United Kingdom, Urteil vom 15. Januar 2013, Nr. 48420/10 u.a., und Magyar Keresztény Mennonita Egyhaz u.a. v. Ungarn, Urteil vom 8. April 2014, Nr. 70945/11 u.a.) noch mit den angegriffenen Entscheidungen, insbesondere mit dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts, hinreichend substantiiert auseinander.

2. Die rechtlichen Maßstäbe, die das Bundesverwaltungsgericht (vgl. Urteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67 = juris, Rn. 25 ff.) im Anschluss an die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. Urteil vom 5. September 2012, C-71/11 und C-99/11, Y und Z, NVwZ 2012, 1612, Rn. 56 ff.) im Rahmen der Prüfung, ob gemäß §§ 3 ff. AsylG eine begründete Furcht vor Verfolgung wegen der Religion besteht, entwickelt hat (a), sind verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden (b).

a) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist in Fällen, in denen nicht schon die bloße Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als solche die Gefahr einer Verfolgung begründet, bei der Frage, ob ein Eingriff in die Religionsfreiheit eine hinreichend schwere Verfolgungshandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG, Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 darstellt, – in einem ersten Schritt – in objektiver Hinsicht festzustellen, welche Maßnahmen und Sanktionen gegenüber dem Betroffenen im Herkunftsstaat voraussichtlich ergriffen werden, wenn er eine bestimmte Glaubenspraxis dort ausübt, und wie gravierend diese sind. Die erforderliche Schwere kann insbesondere erreicht sein, wenn ihm durch die Betätigung seines Glaubens – im privaten oder öffentlichen Bereich – die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, (tatsächlich) strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Dabei kann bereits der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung die Qualität einer Verfolgung erreichen. Sodann ist – in einem zweiten Schritt – in subjektiver Hinsicht festzustellen, ob die Befolgung einer solchermaßen als verfolgungsträchtig bestimmten Glaubenspraxis ein zentrales Element für die religiöse Identität des Schutzsuchenden und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar ist. Maßgeblich ist dabei, wie der Einzelne seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Beide Prüfungsschritte unterliegen der eigenständigen tatrichterlichen Würdigung der Verwaltungsgerichte. Die innere Tatsache, dass die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für die religiöse Identität des Betroffenen zentrale Bedeutung hat, muss zur Überzeugung der Gerichte feststehen (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

b) Diese im Rahmen der Zuerkennung der Flüchtlingsanerkennung für erforderlich erachtete fachgerichtliche Prüfung verletzt weder das in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV garantierte Selbstbestimmungsrecht der Kirchen oder Religionsgemeinschaften (aa) noch die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 10 Abs. 1 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK, bb).

aa) Die Wirksamkeit einer nach kirchenrechtlichen Vorschriften vollzogenen Taufe und damit die Mitgliedschaft des Schutzsuchenden in der Kirchengemeinschaft, die zum Bereich des in Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV garantierten Selbstbestimmungsrechts zählt (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 17. Dezember 2014 - 2 BvR 278/11 -, Rn. 37), darf von den Verwaltungsgerichten nicht in Frage gestellt werden. Vielmehr haben diese die Kirchenmitgliedschaft als Rechtstatsache zu beachten und der flüchtlingsrechtlichen Prüfung zugrunde zu legen. Dies gilt auch dann, wenn der Sachvortrag zur Konversion oder die vorgelegten Unterlagen Anhaltspunkte für eine gewisse Oberflächlichkeit, für Missbräuchlichkeit (insoweit abweichend wohl BVerwG, <angegriffener> Beschluss vom 25. August 2015 - BVerwG 1 B 40.15 -, Rn. 11) oder für eine mitbestimmende taktische Prägung des Übertritts zur christlichen Religion erkennen lassen; derartigen Anhaltspunkten kann jedoch im Rahmen der Verfolgungsprognose Rechnung getragen werden.

Von der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zu unterscheiden ist allerdings die Frage, ob und bejahendenfalls welche Aspekte einer Glaubensüberzeugung oder Glaubensbetätigung in einer die Furcht vor Verfolgung begründenden Intensität für die religiöse Identität des individuellen Schutzsuchenden prägend sind oder nicht. Denn bei der damit angesprochenen Prüfung, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 ff. AsylG vorliegen, handelt es sich nicht um eine eigene Angelegenheit der Kirchen oder Religionsgemeinschaften im Sinne von Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV. Das kirchliche Selbstbestimmungsrecht umfasst alle Maßnahmen, die der Sicherstellung der religiösen Dimension des Wirkens der Religionsgemeinschaft im Sinne kirchlichen Selbstverständnisses und der Wahrung der unmittelbaren Beziehung der Tätigkeit zum kirchlichen Grundauftrag dienen (vgl. BVerfGE 137, 273 <307>). Die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft fällt nicht in diesen der Erfüllung des religiösen Auftrags und der religiösen Sendung dienenden Bereich, sondern ist kraft Gesetzes ausschließlich der Zuständigkeit des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (§§ 5 Abs. 1, 13 Abs.1 AsylG) und – im Fall einer gerichtlichen Überprüfung – den Verwaltungsgerichten zugewiesen (§ 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, §§ 74 ff. AsylG). Die Frage, ob die Bundesrepublik Deutschland Personen in ihrem Hoheitsgebiet Schutz vor Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 und 4 AsylG in Verbindung mit Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 gewährt, obliegt nach Maßgabe der europäischen und nationalen Rechtsvorschriften ausschließlich dieser selbst und nicht der Kirche oder den Religionsgemeinschaften.

bb) Durch die bei Prüfung der Flüchtlingseigenschaft von den Verwaltungsgerichten zu treffenden Feststellung der Bedeutung bestimmter Glaubensbetätigungen für die religiöse Identität des Schutzsuchenden wird auch nicht die Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit des Einzelnen (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 10 Abs. 1 GR-Charta, Art. 9 Abs. 1 EMRK) wegen Missachtung der sich aus Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG, Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 33 Abs. 3 GG und Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 136 Abs. 1 und 4, Art. 137 Abs. 1 WRV ergebenden weltanschaulich-religiösen Neutralitätspflicht des Staates verletzt. Entgegen der Auffassung der Verfassungsbeschwerde haben die Verwaltungsgerichte nach den vom Bundesverwaltungsgericht aufgestellten rechtlichen Maßstäben keine inhaltliche "Glaubensprüfung" vorzunehmen. Mit der Prüfung der Flüchtlingsanerkennung wegen geltend gemachter religiöser Verfolgung ist insbesondere keine verfassungsrechtlich unzulässige Bewertung des Glaubens des Einzelnen oder der Lehre der Kirche verbunden (vgl. BVerfGE 33, 23 <29>; 108, 282 <300>; 137, 273 <305 Rn. 88>; 138, 296 <329, Rn. 86, 339 Rn. 110>; BVerfG, Beschluss des Zweiten Senats vom 14. Januar 2020 - 2 BvR 1333/ 17 -, Rn. 88). Die Verwaltungsgerichte setzen sich bei der erforderlichen – subjektiven – Prüfung der Schwere der drohenden Verletzung der Religionsfreiheit weder mit Inhalten von Glaubenssätzen auseinander, noch setzen sie ihre eigene Wertung zu Inhalt und Bedeutung eines Glaubenssatzes an die Stelle derjenigen des Einzelnen oder der Kirche oder Glaubensgemeinschaft oder formulieren eigene Standpunkte in Sachen des Glaubens (vgl. BVerfGE 137, 273 <305 f.>). Sie entscheiden auch nicht über die Legitimität religiöser Glaubensüberzeugungen und die Art und Weise ihrer Bekundung (vgl. EGMR, Eweida u.a. v. United Kingdom, Urteil vom 15. Januar 2013, Nr. 48420/10 u.a., § 81, und Magyar Keresztény Mennonita Egyhaz u.a. v. Ungarn, Urteil vom 8. April 2014, Nr. 70945/11 u.a., § 76). Die Verwaltungsgerichte müssen und dürfen lediglich der Stellung des Schutzsuchenden zu seinem Glauben nachgehen, nämlich der Intensität und Bedeutung der von ihm selbst empfundenen Verbindlichkeit von Glaubensgeboten für die eigene religiöse Identität. Darin liegt keine Verletzung der Pflicht des Staates zu weltanschaulich-religiöser Neutralität.

3. Die Verwaltungsgerichte haben allerdings bei der Anwendung der vorgenannten Maßstäbe auf den konkreten Fall die Bedeutung des in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 9 Abs. 1 EMRK und Art. 10 GR-Charta verbürgten Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit als ein in einer demokratischen Gesellschaft zentrales Grundrecht und grundlegendes Menschenrecht (vgl. EuGH, Urteil vom 5. September 2012, C-71/11 und C-99/11, Y und Z, Rn. 57) in besonderem Maße zu berücksichtigen.

a) Dem hohen Wert des betroffenen Grundrechts hat die Sachverhaltsaufklärung Rechnung zu tragen (vgl. zu den Anforderungen an einen wirkungsvollen Rechtsschutz im Zusammenhang mit Art. 2 Abs. 2 GG: BVerfGE 117, 71 <106 f.>; zur EMRK vgl. BVerfGE 111, 307 <323 ff.>). Ihr Gegenstand ist zunächst die Frage, ob im Herkunftsstaat des Schutzsuchenden ein bestimmtes Verhalten – etwa die Abwendung von einer (Staats-) Religion, die Hinwendung zu einem anderen Glauben, eine bestimmte, als religiös verstandene Betätigung der Betroffenen – Maßnahmen nach sich ziehen kann, die als Verfolgung oder unmenschliche Behandlung einzustufen sind. Erst vor diesem Hintergrund ist zu fragen, ob für den im konkreten Fall betroffenen Schutzsuchenden ein solches Verhalten festzustellen oder im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat voraussichtlich zu erwarten sein wird, ob insbesondere die Hinwendung zu dem neuen Glauben identitätsprägendes Gewicht hat. In Fällen, in denen es um die Bedeutung einer bestimmten Glaubenspraxis für die religiöse Identität des Schutzsuchenden und die Intensität der selbst empfundenen Verpflichtung eines bestimmten Glaubensgebotes geht, kommt der verfahrensrechtlichen Sachaufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) deshalb verfassungsrechtliches Gewicht zu. Die fachgerichtliche Beurteilung muss daher auf einer hinreichend verlässlichen und auch ihrem Umfang nach zureichenden tatsächlichen Grundlage beruhen (vgl. zur Beurteilung der Aufnahmebedingungen in einem Drittstaat als unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK: BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 8. Mai 2017 - 2 BvR 157/17 -, Rn. 16). Dabei ist nicht nur das Vorbringen des  Schutzsuchenden im Rahmen der in aller Regel gebotenen informatorischen gerichtlichen Anhörung zu berücksichtigen, sondern es sind auch äußere Anknüpfungstatsachen heranzuziehen, die Rückschlüsse auf die innere Einstellung des Betroffenen erlauben (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - BVerwG 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, juris, Rn. 31, und angegriffener Beschluss vom 25. August 2015 - BVerwG 1 B 40.15 -, juris, Rn. 14).

b) Auch im Rahmen der tatrichterlichen Beweiswürdigung ist die besondere Bedeutung des Grundrechts auf Glaubens-, Gewissens- und Religionsfreiheit zu beachten. Zwar unterliegt es im Ausgangspunkt der freien Beweiswürdigung gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO, auf welche Weise das Tatsachengericht sich die erforderliche Überzeugungsgewissheit vom Vorliegen der entscheidungserheblichen Tatsache verschafft, ob der Schutzsuchende eine verfolgungsträchtige religiöse Betätigung seines Glaubens für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2013 - BVerwG 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, juris, Rn. 30, und angegriffener Beschluss vom 25. August 2015 - BVerwG 1 B 40.15 -, juris, Rn. 14). Auch sind die Umstände, unter denen das Gericht die Überzeugung von dieser inneren Tatsache gewinnt, grundsätzlich einer abstrakt-generellen Verallgemeinerung nicht zugänglich. Es handelt sich stets um eine Frage des jeweiligen Einzelfalls.

aa) Es bedarf im Rahmen der Beweiswürdigung jedoch in aller Regel der Gesamtschau einer Vielzahl von Gesichtspunkten, die Aufschluss über die religiöse Identität des Schutzsuchenden geben können, wie etwa die religiöse Vorprägung des Betroffenen und seiner Familie, eine Glaubensbetätigung bereits im Herkunftsland, der äußere Anstoß für den Konversionsprozess sowie dessen Dauer oder Intensität, die inneren Beweggründe für die Abwendung vom bisherigen Glauben, die Vorbereitung auf die Konversion und deren Vollzug, die Information und Reaktion des familiären und sozialen Umfeldes, das Wissen über die neue Religion und die Konversionskirche, die Bedeutung und Auswirkungen des neuen Glaubens für beziehungsweise auf das eigene Leben sowie Art und Umfang der Betätigung des neuen Glaubens wie zum Beispiel die Teilnahme an Gottesdiensten, an Gebeten und am kirchlichen Leben (vgl. Berlit/Dörig/Storey, Glaubhaftigkeitsprüfung bei Asylklagen aufgrund religiöser Konversion oder Homosexualität: Ein Ansatz von Praktikern (Teil 1), ZAR 2016, 281 <284 ff.>).

Die Ermittlung und Bewertung solcher Gesichtspunkte ist auch nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union erforderlich (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2018, C-56/17, Bahtiyar Fathi, NVwZ 2019, 634 <639> Rn. 88). Dabei werden die Beweisanforderungen auch im Hinblick auf Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 10 Abs. 1 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK nicht überspannt, wenn von einem volljährigen Antragsteller im Regelfall erwartet wird, dass er schlüssige und nachvollziehbare Angaben zu den inneren Beweggründen für die Konversion machen kann und mit den Grundzügen seiner neuen Religion hinreichend vertraut ist, um die von ihm behauptete Gefahr der Verfolgung aus religiösen Gründen gebührend zu substantiieren (vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2018, C-56/17, Bahtiyar Fathi, NVwZ 2019, 634 <639> Rn. 84 und 90). Allerdings wird der Umfang des Wissens über die neue Religion maßgeblich von der individuellen Geschichte des Antragstellers, seiner Persönlichkeit, seinem Bildungsniveau und seiner intellektuellen Disposition abhängen, die bei der Beweiswürdigung daher angemessen Berücksichtigung finden müssen (vgl. BVerwG, angegriffener Beschluss vom 25. August 2015 - BVerwG 1 B 40.15 -, juris, Rn. 14; Berlit/ Dörig/Storey, Glaubhaftigkeitsprüfung bei Asylklagen aufgrund religiöser Konversion oder Homosexualität: Ein Ansatz von Praktikern (Teil 1), ZAR 2016, 281 <284>).

bb) Bei alledem haben die Tatsachengerichte jedoch zu beachten, dass Gesichtspunkten der vorerwähnten Art stets nur die Bedeutung von Indizien zukommt, und dass sie sich im Rahmen der tatrichterlichen Würdigung jeglicher inhaltlicher Bewertung des Glaubens des Einzelnen und der Kirchen zu enthalten haben. Eine inhaltliche "Glaubensprüfung" – etwa eine eigene Auslegung oder Priorisierung einzelner Glaubensinhalte gegenüber anderen Aspekten der jeweils betroffenen Religion – ist ihnen verschlossen, weil dies die verfassungsrechtlich verbürgte Freiheit, das eigene Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und innerer Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, entleeren würde.

cc) Zudem gilt, dass die Vertrautheit des Schutzsuchenden mit den Lehraussagen einer Religionsgemeinschaft zwar ein Indiz für die identitätsprägende Bedeutung eines Übertritts zu dieser Religion darstellen kann – wenn auch nicht zwingend muss –, dass indes der Umkehrschluss nicht in jedem Fall zulässig ist. Eine identitätsprägende Hinwendung zu einem Glauben kann vielmehr auch ohne eine derartige Vertrautheit vorliegen, wenn aussagekräftige und gewichtige Umstände des Einzelfalles festzustellen sind, die die Prognose rechtfertigen, dass der Schutzsuchende sich den Verhaltensleitlinien seines neu gewonnenen Glaubens derart verpflichtet sieht, dass er ihnen auch nach Rückkehr in seinen Heimatstaat folgen und sich damit der Gefahr von Verfolgung oder menschenunwürdiger Behandlung aussetzen wird. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG, Art. 140 GG in Verbindung mit Art. 137 Abs. 3 Satz 1 WRV gebieten es, auch derartige Fallkonstellationen zutreffend zu erfassen. [...]