VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 13.05.2020 - 12 L 52/20.A - asyl.net: M28444
https://www.asyl.net/rsdb/M28444
Leitsatz:

Ablehnung als unzulässiger Zweitantrag nur bei sicherer Kenntnis über erfolgloses Erstverfahren:

1. Die Ablehnung als unzulässiger Zweitantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG setzt voraus, dass das BAMF positive Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen EU-Mitgliedstaat hat.

2. Es reicht in der Regel nicht aus, sich auf die Angaben der Antragsteller*innen zu verlassen. Vielmehr ist das BAMF zu einer eigenen Feststellung über die negative Sachentscheidung verpflichtet.

(Leitsätze der Redaktion; ähnlich VG Berlin, Beschluss vom 11.03.2020 - 17 L 210/20 A - asyl.net: M28420)

Schlagwörter: Zweitantrag, Unzulässigkeit, Amtsermittlung, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Asylverfahrensrecht,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 71a
Auszüge:

[...]

Ob ein Antrag - so wie hier - nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a AsylG als unzulässig abgelehnt werden kann oder ob die Voraussetzungen auf materielle Prüfung eines Schutzbegehrens vorliegen, muss positiv feststehen, wenn die Entscheidung über den Antrag ergeht (vgl. VG Hannover, Beschluss vom 12. Januar 2017 - 10 B 7714/16 - juris Rn. 16).

Dazu muss das Bundesamt auf der ersten Stufe zu der gesicherten Erkenntnis gelangen, dass eine Zweitantragsituation vorliegt; nur dann kann sich das Bundesamt auf die Prüfung von Wiederaufnahmegründen beschränken (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 7. September 2016 - B 54/16 - juris Rn. 7). Auf der zweiten Stufe ist anhand einer sicheren Erkenntnis von einem Zweitantrag zu prüfen, ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen. Wenn beides der Fall ist, ist in einem solchen Fall ein weiteres Asylverfahren durchzuführen, welches sich auf der dritten Stufe materiell mit dem Schutzbegehren des Asylantragstellers zu befassen hat.

Die Prüfung, ob überhaupt eine Zweitantragsituation vorliegt, beinhaltet, unter anderem, dass das Bundesamt Kenntnis von der Entscheidung und den Entscheidungsgründen der Ablehnung des Antrags im anderen Mitgliedstaat hat (vgl. VG Stuttgart, Urteil vom 23. April 2019 - A 4 K 15556/17 - Seite 6 des Urteilsabdrucks mit zahlreichen weiteren Nachweisen auch zur europarechtskonformen Auslegung des § 71 a Abs. 1 AsylG). Damit ein Asylantragsteller zumindest eine einmalige sachliche Prüfung seines Schutzbegehrens in der Europäischen Union erlangt, muss im Vorfeld eines etwaigen Zweitantrags abgeklärt werden, ob tatsächlich eine Zweitantragssituation vorliegt und ein Rückgriff auf § 71a AsylG in Betracht kommt, oder ob das Bundesamt eine sachliche Prüfung vornehmen muss (vgl. BayVGH, Urteil vom 3. Dezember 2015 - 13a B 15.50069, 50070, 50071 - NVwZ, 2016, 625). [...]

Zwar hat die Antragstellerin bei der Anhörung zur Zulässigkeit des Asylantrags am 5. Februar 2018 angegeben, ihr Asylantrag in Belgien sei zweimal abgelehnt worden; ihr "Widerspruch" dagegen sei auch abgelehnt worden. Diesen Angaben lässt sich aber nicht entnehmen, ob das Antragsverfahren in Belgien tatsächlich mit einer negativen Sachentscheidung abgeschlossen worden ist. Die Angaben der Antragstellerin entbinden das Bundesamt nicht davon, positiv festzustellen, dass das Asylerstverfahren für sie mit einer negativen Sachentscheidung abgeschlossen wurde. Denn ein Asylantragsteller ist in der Regel schon nicht in der Lage, über den Verlauf seines Verfahrens ausreichend fundierte Auskunft zu geben (vgl. VG Stuttgart, a.a.O., S. 7 des Urteilsabdrucks mit Nachweis der Rechtsprechung des BayVGH). Insoweit stellt das Bundesamt im angegriffenen Bescheid reine Vermutungen im Hinblick auf das Verfahren in Belgien an. Die von der Antragstellerin bei ihrer Anhörung am 5. Februar 2018 vorgelegten belgischen Unterlagen wurden nicht übersetzt. Die in den Akten befindlichen französischsprachigen Unterlagen enthalten jedenfalls keine Begründung zur Ablehnung eines Asylantrags. Nachfragen bei den zuständigen belgischen Behörden hat das Bundesamt unterlassen. Eine Zulässigkeitsentscheidung, die auf einer derart unzuverlässigen Tatsachenbasis getroffen wird, kann für ein nach rechtsstaatlichen Grundsätzen durchzuführendes Verfahren keine Grundlage sein (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 3. Dezember 2015, a.a.O., S. 626, m.w.N.). [...]