Aufhebung der Wohnverpflichtung in der Erstaufnahmeeinrichtung wegen der Corona-Pandemie:
1. Die Aufhebung der Wohnverpflichtung nach § 49 Abs. 2 AsylG kommt aus öffentlichen und privaten Gründen in Betracht. Die Wohnverpflichtung kann daher aufgehoben werden, um den Antragsteller vor einer Ansteckung zu schützen.
2. Asylsuchende sind laut Robert-Koch-Institut wegen der anstrengenden Reise, oft fehlendem Impfschutz und der engen räumlichen Situation besonders empfänglich für einige Infektionskrankheiten.
3. Das behördliche Ermessen ist aufgrund der Pandemielage auf Null reduziert. Es sind auch keine keine milderen Mittel als die Aufhebung der Wohnverpflichtung ersichtlich, da aufgrund der Vielzahl der Bewohner*innen trotz Vorsichtsmaßnahmen ein erhöhtes Infektionsrisiko besteht.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
§ 49 Abs. 2 AsyIG berücksichtigt sowohl öffentliche Interessen als auch private Belange des Ausländers. So kann die Wohnverpflichtung zum einen aufgehoben werden aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; hierunter subsumiert das Gesetz auch die besonders hervorgehobenen, weil praxisrelevanten Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge. Zu denken ist etwa an Seuchen- und Ansteckungsgefahren in einer Aufnahmeeinrichtung, die eine Entlassung rechtfertigen (Heusch, in: BeckOK AuslR, 24. Ed. 1.11.2019, AsylG § 49 Rn. 8: NK-AuslR/Dominik Bender/Maria Bethke, 2. Aufl. 2016, AsylG § 49 Rn. 5; Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Kommentar zum Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AsylG § 49 Rn. 4). Gründe der Gesundheitsvorsorge können eine Beendigung der Wohnverpflichtung nahelegen, vor allem, wenn sie nach dem Infektionsschutzgesetz relevant ist. Dann kann die Bestimmung nicht nur objektiv-rechtlichen Charakter haben, sondern es sind auch die verpflichteten Asylbewerber mit in den Blick [zu] nehmen und deren Interessen im Rahmen der Ermessensentscheidung besonders zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere, wenn Schutz vor Ansteckung begehrt und aus diesem Grund die Entlassung angestrebt wird. Dabei Ist weiter zu beachten, dass die Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge von erheblichem Gewicht sein müssen (vgl. VG Leipzig, Beschluss vom 22.04.2020 - 3 L 204/20.A -; Funke-Kaiser in GKAsyIG, § 49 Rn. 17 ff.; Hailbronner, AuslR, 65. Aufl., § 49 AsylG Rn. 9; Marx, AsylG, 9. Aufl., § 49 Rn. 6).
Die Aufhebung der Verpflichtung des Asylbewerbers, in der Aufnahmeeinrichtung in ... zu wohnen, dient nicht nur der Prävention zur Ausbreitung des Virus SARS-CoV 2 und damit einem öffentlichen Interesse (a.), sondern auch dem Schutz des Antragstellers vor Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV 2, mithin einem privaten Belang (b.). Dabei verbleibt dem Antragsgegner auch kein Entschließungsermessen (c.).
a. Nach § 28 Abs. 1 IfSG trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 IfSG genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder es sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war. [...]
Nach § 1 SächsCoronaSchVO vom 17.04.2020 wird daher jeder angehalten, die physisch-sozialen Kontakte zu anderen Menschen als den Angehörigen des eigenen Hausstandes oder zu der Partnerin oder dem Partner auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren; wo immer möglich, ist ein Mindestabstand zu anderen Personen außer zu den Angehörigen des eigenen Hausstandes von 1,5 Metern beziehungsweise die Durchführung weiterer Maßnahmen zur Ansteckungsvermeidung einzuhalten (Kontaktbeschränkung). Dieser Grundsatz gilt für alle Lebensbereiche, insbesondere auch für Arbeitsstätten. [...] Entscheidungserheblich ist hier § 1 SächsCoronaSchVO, da es um die Unterbringung und den Aufenthalt in einer Erstaufnahmeeinrichtung handelt. Hierbei kann nicht von einem Aufenthalt im öffentlichen Raum ausgegangen werden. Die Grundsätze des § 1 SächsCoronaSchVO finden auch in einer Asylerstaufnahmeeinrichtung Anwendung. Hierfür spricht bereits der Wortlaut des § 1 SächsCoronaSchVO. 'Wo immer möglich" und "in allen Lebensbereichen" ist nach § 1 SächsCoronaSchVO der Mindestabstand einzuhalten. Gerade auch in Asylbewerberunterkünften ist die Verhinderung der Ausbreitung des Virus SARS-CoV 2 zwingend notwendig. Sollte eine Infektion festgestellt werden, führt dies zu infektionsschutzrechtiichen Maßnahmen gegenüber allen Bewohnern. Dass der Sächsische Verordnungsgeber eine Ausbreitung durch die Zusammenkunft von Menschen in Unterkünften aller Art als besonders wahrscheinlich ansieht, zeigen die weiteren, bußgeldbewehrten Regelungen der SächsCoronaSchVO (vgl. nur das Verbot von Ansammlung von Menschen In § 3, die Betriebsuntersagungen in §§ 4 bis 6, der nur eingeschränkte Betrieb von Geschäften und Betrieben in § 7 und vor allem die Besuchsbeschränkungen in § 9). Es würde nicht nur einen Wertungswiderspruch zu diesen Regelungen darstellen, wollte man den Bereich der Asylbewerberunterkünfte von dem Gebot des § 1 SächsCoronaSchVO herausnehmen (vgl. auch § 36 Abs. 1 Nr. 4 lfSG), es würde vor allem dem Sinn und Zweck der Verordnung selbst zuwiderlaufen, die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV 2 zu verhindern. Dabei ist weiter besonders zu berücksichtigen, dass Asylsuchende primär unter den gleichen Infektionskrankheiten wie die ansässige Bevölkerung leiden. Die anstrengende Reise, ein oft fehlender Impfschutz und die enge räumliche Situation in den Aufnahmeeinrichtungen können jedoch dazu führen, dass Asylsuchende empfänglicher für einige Infektionskrankheiten sind (vgl. www.rki.de/SharedDocs/FAQ/Asylsuchende/Asylsuchende und Gesundheit.html, zuletzt abgerufen am 30.04.2020), so dass es dort leichter zu Infektionen kommen könnte. Dass im Übrigen in Asylbewerberunterkünften die Einhaltung eines Mindestabstandes von 1,5 Metern objektiv nicht möglich sein könnte, ist nicht ersichtlich (vgl. VG Leipzig, Beschluss vom 22.04.2020 - 3 L 204/20.A -). Davon geht auch der Antragsgegner aufgrund der von ihm aufgezählten Maßnahmen aus.
Dabei ist es unerheblich, dass in der Aufnahmeeinrichtung des Antragstellers bisher kein Infektionsfall mit dem Virus SARS-CoV 2 aufgetreten ist. Soweit der Antragsgegner dies vorträgt, kann dem nicht gefolgt werden. Die getroffenen Maßnahmen zu den Kontaktbeschränkungen durch die SächsCoronaSchVO sollen nach dem Zweck ja gerade die Infizierung mit dem Virus verhindern. Sie richten sich damit nicht vorrangig an Erkrankte, sondern vor allem an gesunde Menschen. Genauso wenig gilt die SächsCoronaSchVO nur gegenüber Personen, die mit Erkrankten Kontakt hatten. Die Maßnahmen, die durch den Antragsgegner getroffen wurden, richten sich an alle Menschen, somit in einer Aufnahmeeinrichtung auch an die gesunden Bewohner. Unter der aktuellen Pandemielage kann nicht auf eine (noch) nicht erfolgte Infektion eines Bewohners der Aufnahmeeinrichtung abgestellt werden, da die Kontaktbeschränkungen gerade auch dem Schutz vor Infektionen dienen und nicht nur der Verhinderung der Ausbreitung des Virus.
Der Antragsteller, der aufgrund der Zuweisung nach § 47 AsylG verpflichtet ist, in der Erstaufnahmeeinrichtung in ... zu wohnen, hat glaubhaft gemacht, dass es ihm im Bereich der Erstaufnahmeeinrichtung nicht möglich ist, die auch für ihn geltenden Grundsätze des § 1 SächsCoronaSchVO einzuhalten. Dazu hat er dargelegt und glaubhaft gemacht, dass die örtliche Organisation des Aufenthalts nicht diesen Anforderungen genügt, da er mit drei bis vier anderen Personen, mit denen er nicht verwandt ist, in einem circa 16 bis 17,5 Quadratmeter großen Zimmer untergebracht ist und sechs Toiletten und sechs Duschen sich mit circa 100 anderen Asylbewerbern teilen muss. Eine separate Küche oder Kochmöglichkeiten, die es dem Antragsteller ermöglichen würden, alleine für sich und ohne Kontakt zu anderen Asylbewerbern sein Essen zuzubereiten und zu verspeisen, ist nicht vorhanden. Dem Antragsteller ist es daher gar nicht möglich, den geforderten Mindestabstand zu anderen Personen außer zu den Angehörigen des eigenen Hausstandes von 1,5 Metern einzuhalten. Dabei ist dem Antragsgegner nur insoweit beizutreten, dass es sich beim Antragsteller und seinen Mitbewohner im selben Zimmer um einen Hausstand handelt, da sie dort ihren Lebensmittelpunkt haben. Insoweit greift § 1 SächsCoronaSchVO nicht. In allen anderen Bereichen der Aufnahmeeinrichtung nach Verlassen des Zimmers sind die Kontaktbeschränkungen und Abstandsregelungen aus der SächsCoronaSchVO einzuhalten. Das gilt auch gegenüber den anderen Bewohnern der Aufnahmeeinrichtung. Selbst wenn man der Ansicht des Antragsgegners folgen würde, dass sämtliche Bewohner in der Erstaufnahmeeinrichtung einen Hausstand bilden, führt dies nicht zu einer anderen rechtlichen Beurteilung. § 49 Abs. 2 AsylG stellt hinsichtlich der Ansteckungsgefahren und den Schutz hiervor auf die gesamte Aufnahmeeinrichtung ab. Eine Relevanz des Hausstandes ist nicht gegeben.
b. Die Regelung des § 49 AsylG dient sowohl dem öffentlichen Interesse als auch der privaten Belange des Asylbewerbers. Der Antragsteller hat damit selbst ein individuelles Interesse am Schutz vor Ansteckung mit dem Virus SARS-CoV 2. Aufgrund der bisher wenig erforschten und bekannten Auswirkung des Virus auf die Menschen und die unterschiedlich schweren Krankheitsverläufe infizierter Personen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller keiner erheblichen Gesundheitsgefahr ausgesetzt ist. Eine Erkrankung könnte eine erhebliche Gesundheitsgefahr für ihn bedeuten. Dabei ist auch unklar, wie viele Menschen Insgesamt sich in Deutschland mit dem Virus anstecken werden (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/NCOV2019/gesamt.html; zuletzt abgerufen am 30.04.2020). Auch kann derzeit nicht sicher festgestellt werden, wie viele Personen sich bisher infiziert haben. Bekannt sind nur die durch Tests nachgewiesenen Fallzahlen. Zwar gehört der Antragsteller mangels Vorerkrankungen nach der derzeitigen Einschätzung des Robert-Koch-Instituts nicht unbedingt zur Risikogruppe für schwere Verläufe der Krankheit nach der Infektion mit dem Virus. Aber er gehört zu der Altersgruppe, die am zweithäufigsten erkrankt. Aufgrund der unspezifischen, vielfältigen und stark variierenden Verläufe der Infektion von symptomlosen Verläufen bis zu schweren Pneumonien mit Lungenversagen und Tod und des Umstandes, dass der Antragsteller zu der Altersgruppe gehört, die sich am häufigsten infiziert (Steckbrief des Robert-Koch-Instituts zur Corona-Virus-Krankheit, Stand: 24.04.2020, www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html; zuletzt abgerufen am 30.04.2020), ist nicht auszuschließen, dass eine etwaige Infizierung mit dem Virus SARS-CoV 2 eine Lungenentzündung sowohl mit Krankenhausaufenthalt und auch kritischem Verlauf nach sich ziehen kann. Nicht selten treten auch bei Erkrankung mit dem Virus SARS-CoV 2 auch Co-Infektionen auf (Steckbrief des Robert-Koch-Instituts zur Corona-Virus-Krankheit, Stand: 24.04.2020, https:/www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html#doc13776792bodyText2, zuletzt abgerufen am 30.04.2020).
c. Angesichts dieser gewichtigen Belange des Antragsstellers ist auch nicht von einem dem Antragsgegner verbleibenden Ermessensspielraum auszugehen, [ob] die Verpflichtung, in der Erstaufnahmeeinrichtung in ... zu wohnen, zu beenden. Diese ist vorläufig und vorübergehend zu beenden. Dem Gericht ist bekannt, dass durch den Antragsgegner der Erstaufnahmeeinrichtung Schutzmaßnahmen und Regelungen zur Bekämpfung des Virus SARS-CoV 2, getroffen wurden. Hierbei handelt es sich um Aushänge zu geltenden Normen und Hygienevorschriften in verschiedenen, den "wichtigsten" Sprachen, wobei unbekannt ist, ob die Sprache des Antragstellers dabei ist, Abstandsmarkierungen zur Einhaltung der Abstände, Einhaltung des Abstandsgebots bei der Speiseaufnahme, erhöhtes Reinigungsregime und die Reduzierung des Zugangs Dritter.
Das Gericht geht dennoch davon aus, dass das Ermessen des Antragsgegners nach § 49 Abs. 2 AsylG dahingehend reduziert ist, den Aufenthalt des Antragstellers in der Erstaufnahmeeinrichtung... vorläufig zu beenden. Sonstige mildere Mittel, die sowohl der Verhinderung der Ausbreitung des Virus SARS-CoV 2 als auch dem Schutz des Antragstellers vor Infizierung mit dem Virus dienen, sind nicht ersichtlich. Dabei ist zum Maßnahmenkatalog des Antragsgegners festzustellen, dass es zweifelhaft ist, dass der Aushang der geltenden Vorschriften, auch wenn dies in mehreren Sprachen erfolgt, geeignet ist, den Asylbewerbern, die sowohl der deutschen Sprache nicht mächtig sind, als auch mit der oftmals schwer verständlichen Sprache von Rechtsvorschriften nicht vertraut sein dürften, die gebotene Sensibilisierung zu vermitteln. Unklar bleibt auch, durch welche Maßnahmen das Abstandsgebot bei der Speiseaufnahme in der Einrichtung eingehalten werden kann. Auch was mit der weitgehenden Einschränkung von gemeinschaftlichen Veranstaltungen oder einem erhöhten Reinigungsregime gemeint ist, erschließt sich aufgrund der unkonkreten Formulierung nicht. Als besonderes Infektionsrisiko ist die zwingend erforderliche Benutzung der gemeinschaftlichen sanitären Einrichtungen anzusehen (so auch VG Dresden, Beschluss vom 24.04.2020 - 11 L 269/20.A -). Diese werden zwar zweimal täglich gereinigt. Dennoch besteht aufgrund der Vielzahl der Benutzer ein erhöhtes Infektionsrisiko. In welche konkrete Unterkunft der Antragsteller nunmehr unterzubringen ist, obliegt aber weiterhin der Entscheidung des Antragsgegners. [...]