VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 29.04.2020 - 13 L 270/20.A - asyl.net: M28461
https://www.asyl.net/rsdb/M28461
Leitsatz:

Vorläufige Aufhebung der Wohnpflicht in einer Aufnahmeeinrichtung für eine alleinstehende schwangere Frau wegen Corona-Pandemie:

1. Die Verpflichtung der schwangeren und psychisch erkankten Antragstellerin, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, ist zur Seuchenprävention und zum Schutz der Antragstellerin nach § 49 Abs. 2 AsylG vorläufig zu beenden. Die Antragstellerin ist vorläufig der Landeshauptstadt Dresden zuzuweisen und dort dezentral unterzubringen.

2. Die Antragstellerin hat als Angehörige einer Risikogruppe Anspruch auf speziellen Schutz. Das behördliche Ermessen ist in diesem Fall reduziert. Dies entspricht der staatlichen Fürsorgepflicht, ein menschenwürdiges Wohnen zu ermöglichen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Erstaufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, Corona-Virus, besonders schutzbedürftig, Zuweisung, Unterbringung, Wohnverpflichtung,
Normen: VwGO § 123 Abs. 1, AsylG § 49 Abs. 2, AsylG § 50 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Gemessen hieran und um eine Vollstreckbarkeit der Entscheidung zu gewährleisten, erscheint es vorliegend geboten, den Antragsgegner nicht nur zu verpflichten, den Aufenthalt der Antragstellerin in der Aufnahmeeinrichtung in Dresden sofort zu beenden, sondern auch die Antragstellerin unverzüglich der Landeshauptstadt Dresden mit der Maßgabe zuzuweisen, dass die Antragstellerin von dieser dezentral untergebracht wird.

Das so verstandene Begehren der Antragstellerin trägt dem Umstand Rechnung, dass der Antragsgegner nach Kenntnis des Gerichts nicht über eigene dezentrale Unterbringungsmöglichkeiten verfügt, die in kurzer Zeit bereitgestellt werden könnte. Angesichts dessen, dass ohnehin beabsichtigt ist die Antragstellerin in der 20. KW der Landeshauptstadt Dresden zuzuweisen, erscheint es daher am sachgerechtesten, das Zur-Verfügung-Stellen einer Unterkunft letzterer zu überlassen. Da die Landeshauptstadt Dresden am vorliegenden Verfahren nicht beteiligt ist und sie auch noch keine Rechtsbeziehung zur Antragstellerin unterhält, ist der Antragsgegner entsprechend zu verpflichten.

Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch hinreichend glaubhaft gemacht.

Gemäß § 50 Abs. 1 AsylG sind Ausländer unverzüglich aus einer Aufnahmeeinrichtung zu entlassen und innerhalb des Landes zu verteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der zuständigen Landesbehörde - hier dem Antragsgegner - u.a. mitteilt, dass in der Person des Ausländers die Voraussetzungen des § 60 Absatz 5 AufenthG vorliegen.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor, ohne dass es insoweit auf die wegen der psychischen Probleme der Antragstellerin als tiefgreifend problematisch anzusehenden Schwangerschaft ankommt.

Jedenfalls aber begründen diese Umstände eine besondere Qualifizierung der gebotenen Unverzüglichkeit der Maßnahme. Kann etwa nach § 49 Abs. 2 AsylG die Verpflichtung aus Gründen der öffentlichen Gesundheitsvorsorge sowie aus sonstigen Gründen der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung, insbesondere zur Gewährleistung der Unterbringung und Verteilung, oder aus anderen zwingenden Gründen beendet werden, folgt daraus im Allgemeinen, dass in Fällen einer Pandemie besondere Risikogruppen einen Rechtsanspruch auf speziellen Schutz haben. Denn Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge ergeben sich insbesondere aus dem Infektionsschutzgesetz. Zur Abwehr von ansteckenden Krankheiten und Seuchen kann deshalb eine Wohnverpflichtung beendet werden. Da diese Beendigung vorrangig im öffentlichen Interesse liegt, ist ein individuell berücksichtigungsfähiges Interesse nicht ohne Weiteres zu unterstellen. Ist mit der Krankheit oder Seuche jedoch eine erhebliches individuelles Gesundheitsrisiko verbunden, das durch einen, auch nur kurzen weiteren Aufenthalt in der Aufnahmeeinrichtung verstärkt werden kann, ist dieses im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigen (vgl. VG Dresden, B. v. 24.04.2020 - 13 L 269/20.A -). [...]

Das Ermessen des Antragsgegners hat sich hier gegenüber der Antragstellerin jedoch nicht nur auf die Entscheidung reduziert, die Beendigung der Wohnverpflichtung in der Aufnahmeeinrichtung auszusprechen. Insoweit liegen allerdings zwingende Gründe, insbesondere Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge vor, die zur Verpflichtungsbeendigung führen.

In diesem Zusammenhang kann dabei dahinstehen, ob auf Grund der von der Antragstellerin angeführten Pandemielage Gründe der öffentlichen Gesundheitsvorsorge vorliegen, die schon allgemein zu einer Beendigung einer Wohnverpflichtung in einer Aufnahmeeinrichtung führen könnten, in der sich eine Vielzahl von Bewohnern auf beschränktem Raum aufhalten müssen. Die Gesundheitsgefahren in Folge einer Pandemie werden auch vom Antragsgegner nicht in Abrede gestellt. Eine erhebliche individuelle Gesundheitsgefahr ist damit aber ebenso wenig zu verneinen.

Es kann ebenso dahinstehen, ob die vom Antragsgegner in der Aufnahmeeinrichtung ... in Dresden getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Bewohner vor dem Corona-Virus allgemein als hinreichend anzusehen sind, ein Infektionsrisiko der auf engstem Raum zusammenlebenden Bewohner zu vermeiden. Nicht einzugehen ist damit darauf, ob für in der Aufnahmeeinrichtung untergebrachte Ausländer die Wohnverpflichtung, jedenfalls für die Dauer der Geltung der aufgrund der Corona-Schutz-Verordnung vorgenommenen Maßnahmen, generell zu beenden ist.

Zutreffend hat das Verwaltungsgericht Dresden hierzu zuletzt ausgeführt:

"Allerdings sei zu dem in der EAE in der ... vorgenommenen Maßnahmenkatalog angemerkt, dass Aushänge, insbesondere auf die Corona-Schutz-Verordnung mit Erläuterungen, selbst wenn diese "grundsätzlich" mehrsprachig sein sollten, kaum geeignet sein dürften, bei Ausländern, die der deutschen Sprache regelmäßig nicht mächtig sein dürften (aber vielleicht auch nicht der Sprache, in die die Corona-Schutz-Verordnung übersetzt worden sein mag), die gebotene Sensibilisierung zu vermitteln. Ebenso dürften Ausländer regelmäßig nicht mit einer oftmals schwer verständlichen Sprache in Rechtsvorschriften vertraut sein. Ebenso dürfte es mit einer "Sensibilisierung" für sofortige Meldung von Krankheitssymptomen gegenüber dem Betreiber der Einrichtung sein, könnte doch bezweifelt werden, dass Ausländer derartige Meldung vornehmen, wenn sie befürchten müssen, dass in einem für sie fremden Land eine Trennung von einem zwischenzeitlich vertrauten Umfeld, etwaigen Bekannten oder Familienangehörigen erfolgt. Unklar ist ebenso die Bedeutung eines "deutlich erhöhten Reinigungsregime[s]" oder die 'Weitgehende" Einschränkung gemeinschaftlicher Veranstaltungen. Die Möglichkeit, den Speisesaal, in welchem sich sämtliche Bewohner der EAE ihre Speisen abzuholen haben, zu verlassen, dürfte kaum vermeiden, dass Speisen gemeinsam eingenommen werden, sei dieses wohl ansonsten in den weiteren Räumen der Einrichtung.

Als besonderes Infektionsrisiko dürfte dabei auch die zwingend gebotene Benutzung der sanitären Gemeinschaftsanlagen sein, die in dem Maßnahmenkatalog hingegen überhaupt keine Erwähnung findet. Die lediglich zur Verfügung stehende Kaltwasserversorgung dürfte dabei ein zusätzliches Risiko beinhalten. Dieses gilt aber ebenso hinsichtlich der sog. "Maskenpflicht", auf die zwar nach dem Maßnahmenkatalog hingewiesen werde, ohne dass aber aufgezeigt ist, inwiefern etwa die - wie allgemein bekannt - Desinfektion getragener Masken möglich ist." (B. v. 24.04.2020 - 11 L 269/20.A).

Ob somit allgemein die Beendigung der Wohnpflicht vorzunehmen ist, mag nach allem dahinstehen. Jedenfalls ist aber die Wohnverpflichtung für die Antragstellerin zu beenden. Sie gehört schon auf Grund der Schwangerschaft zu einer Personengruppe, die als besonders vulnerabel anzusehen ist. Das Gericht geht davon aus, dass bei ihr ein erhöhtes Infektionsrisiko auf Grund der Zugehörigkeit zu der besonders vulnerablen Personengruppe anzunehmen ist. Dass Zugehörige, die zu einer besonders vulnerablen Personengruppe gehören, in dem vom Antragsgegner vorgelegten Maßnahmenkatalog noch nicht einmal Erwähnung finden, er diese offenbar als nicht besonders schutzwürdig ansieht, sei hier nur angemerkt. [...]