VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 21.01.2020 - 38 K 429.19 V, gleichlautend: VG 38 K 19.19.V , VG 38 K 51.19 V, VG 38 K 52.19 V - Asylmagazin 6-7/2020, S. 239 f. - asyl.net: M28472
https://www.asyl.net/rsdb/M28472
Leitsatz:

Kein Elternnachzug zu volljährig gewordenen subsidiär Schutzberechtigten:

1. Bei der Beurteilung der Minderjährigkeit als Voraussetzung für den Elternnachzug zu subsidiär Schutzberechtigten nach § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG ist das Alter zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Visumsantrag maßgeblich.

2. Eine Abweichung von dieser Regelung ergibt sich weder aus der Auslegung der Vorschrift noch aus anderen Gründen. Behörden können die Visumserteilung auch nicht durch Verfahrensverzögerungen rechtswidrig verhindern, da Betroffene durch Klageerhebung und Beantragung von Eilrechtsschutz auf eine Erteilung des Visas noch vor Eintritt der Volljährigkeit hinwirken können.

3. Der Beschränkung des Elternnachzugs auf eine Einreise bis zur Volljährigkeit der Kinder verstößt auch nicht gegen Unionsrecht. Die Familienzusammenführungsrichtlinie 2003/86/EG findet auf subsidiär Schutzberechtigte keine Anwendung (unter Bezug auf EuGH, Urteil vom 07.11.2018 - C-380/17 K und B gg. Niederlande - asyl.net: M26724; EuGH, Urteil vom 12.04.2018 - C-550/16 A. und S. gg. Niederlande - Asylmagazin 5/2018, S. 176 ff. - asyl.net: <link rsdb m26143>M26143). Auch aus der Qualifikationsrichtlinie ergibt sich kein solcher Anspruch.

4. Auch aus Völkerrecht und Grundrechten ergibt sich nichts anderes, da sich aus den jeweiligen Normen kein Anspruch auf Familienzusammenführung nach Eintritt der Volljährigkeit ergibt. Die Privilegierung anerkannter Flüchtlinge ist durch die unterschiedlichen unionsrechtlichen Vorgaben gerechtfertigt. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Elternnachzug, Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, unbegleitete Minderjährige, Volljährigkeit, Beurteilungszeitpunkt, Elternnachzug, minderjährig, Gleichheitsgrundsatz, EuGH, Rechtssicherheit, Kontingentverfahren, A und S, A. und S., Kind,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 1 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 2 S. 1 Alt. 2, RL 2003/86/EG Art. 10 Abs. 3, RL 2003/86/EG Art. 13 Abs. 2 S. 1, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 5, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 1, RL 2011/95/EU Art. 23 Abs. 2, UN-KRK Art. 1, UN-KRK Art. 10 Abs. 1 S. 1, EMRK Art. 8, GG Art. 6 Abs. 1, GR-Charta Art. 24, GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 6 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

2. Ein Anspruch der Kläger zu 1. und 2. folgt nicht aus § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG. [...]

Mit dem Eintritt der Volljährigkeit ihres Kindes sind bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen des Elternnachzugs nach § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG nicht mehr er-füllt. Das gilt nach Auffassung der Kammer unabhängig davon, ob die Eltern – wie vorliegend – ihren Nachzugsantrag bereits vor dem Eintritt der Volljährigkeit des Kindes gestellt haben, ob das Kind den Antrag auf Zuerkennung internationalen Schutzes vor Eintritt der Volljährigkeit gestellt hat oder ihm der subsidiäre Schutz davor zuerkannt worden ist (siehe bereits Urteile der Kammer vom 29. März 2019 – VG 38 K 27.18 V –, vom 3. April 2019 – VG 38 K 26.18 V –, und vom 26. August 2019 – VG 38 K 26.19 V –, jeweils juris; so auch Zeitler, in: HTK-AuslR, § 36a Abs. 1 AufenthG, Stand: 12/2019, Nr. 3; a.A. Hailbronner, AusländerR, Stand: September 2018, § 36a AufenthG, Rn. 39; wohl auch Kupffer, JAmt 2019, 547 [549]). [...]

Eine Abweichung von diesem Grundsatz ergibt sich weder aus der Auslegung des § 36 Abs. 1 S. 2 AufenthG noch aus anderen Gründen.

a. Sowohl der Wortlaut des § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG als auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/2458, S. 21 f.) sind insoweit unergiebig. Auch aus Sinn und Zweck des § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG sowie seiner systematischen Einbettung in das Aufenthaltsgesetz ergibt sich keine Ausnahme von diesem Grundsatz, vielmehr bestätigt das Ergebnis der teleologischen und systematischen Auslegung die An-wendung des Grundsatzes in dieser Konstellation. [...]

b. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der Bestimmung des § 27 Abs. 4 S. 4 AufenthG, wonach eine Aufenthaltserlaubnis erstmals für mindestens ein Jahr zu erteilen ist. [...]

c. Diese Auffassung führt auch nicht dazu, dass die Behörden ein auf § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG gestütztes Nachzugsbegehren durch Verfahrensverzögerung oder rechtswidrige Versagung des Visums vereiteln könnten.

Denn die Betroffenen haben zum einen (sowohl im Asyl- als auch im Visumsverfahren) die Möglichkeit zur Erhebung einer Verpflichtungs- und einer Untätigkeitsklage gemäß § 75 VwGO. Zum anderen steht ihnen die Möglichkeit offen, ihr Nachzugsbegehren mithilfe einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO rechtzeitig vor Er-reichen der Volljährigkeit des Kindes durchzusetzen. Oftmals führt bereits die Stellung eines solchen Antrages auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes und die Erörterung der Sach- und Rechtslage unter gerichtlicher Beteiligung in diesen Verfahren dazu, dass eine gütliche Einigung herbeigeführt und das beantragte Visum letztendlich doch noch vor Erreichen der Volljährigkeit erteilt wird (siehe dazu etwa VG Berlin, Beschluss vom 26. November 2019 – VG 38 L 442.19 V –, juris; sowie Beschluss vom 27. Dezember 2019 – VG 38 K 375.19 V –, juris). Auch für den Fall, dass dies nicht geschieht, kann die (vorläufige) Verpflichtung zur Erteilung eines entsprechenden Visums im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes erreicht werden (etwa VG Berlin, Beschlüsse vom 8. Januar 2020 – VG 38 L 106/20 V –, juris; und vom 16. Januar 2020 – VG 38 L 502.19 V –; zur Veröffentlichung in juris vorgesehen). [...]

d. Die Beschränkung des Elternnachzugs auf eine Einreise bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten steht auch im Einklang mit den unionsrechtlichen Vorgaben durch ausländer- und asylrechtliche Richtlinien.

aa. Die Mitgliedstaaten sind zwar durch Art. 10 Abs. 3 lit. a) der Richtlinie 2003/86/EG vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG) verpflichtet, die Familienzusammenführung der Eltern mit einem Minderjährigen, dem die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, unter gewissen Voraussetzungen auch nach dessen Volljährigkeit zu ermöglichen (EuGH, Urteil vom 12. April 2018 – C-550/16 –, NVwZ 2018, 1463, juris; siehe auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 22. Mai 2019 – OVG 3 B 1.19 –, juris Rn. 28). Des Weiteren sieht Art. 13 Abs. 2 S. 1 Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG vor, dass den nachziehenden Eltern ein Aufenthaltstitel mit mindestens einjähriger Gültigkeitsdauer zu erteilen ist.

Die Familienzusammenführungs-RL 2003/86/EG gilt aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht für die Familienzusammenführung mit (lediglich) subsidiär Schutzberechtigten (EuGH, Urteile vom 7. November 2018 – C-380/17 –, juris Rn. 25-33; vom 13. März 2019 – C-635/17 –, juris Rn. 33f.). [...]

bb. Auch aus Art. 20 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 und 5 der Richtlinie 2011/95/EU über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikations-RL 2011/95/EU) folgt keine andere Bewertung.

Danach haben die Mitgliedstaaten zwar sowohl für Flüchtlinge als auch für subsidiär Schutzberechtigte die spezielle Situation von schutzbedürftigen Minderjährigen und das Wohl des Kindes vorrangig zu beachten. Ein Recht auf Familienzusammenführung lässt sich der Vorschrift jedoch nicht entnehmen (vgl. Hailbronner, a.a.O., Rn. 14). Ein solches Recht ergibt sich auch nicht aus Art. 23 Abs. 1 Qualifikations-RL 2011/95/EU, nach der die Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung des Familienverbandes Sorge zu tragen haben. [...] Schließlich ergibt sich ein Anspruch auch nicht aus Art. 31 Qualifikations-RL 2011/95/EU, der den Umgang mit unbegleiteten Minderjährigen zwar näher regelt, den Nachzug von Familienangehörigen jedoch unerwähnt lässt. [...]

e. Die Beschränkung des Elternnachzugs auf eine Einreise bis zum Zeitpunkt der Volljährigkeit des subsidiär Schutzberechtigten steht ferner im Einklang mit den Konventions- und Grundrechten zum Schutz der Kinder und Familie und sonstigen höherrangigem Recht.

aa. Insbesondere ergibt sich aus dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (UN-Kinderrechtskonvention) kein Erfordernis für eine andere Auslegung des § 36a Abs. 1 S. 2 AufenthG.

Die UN-Kinderrechtskonvention ist auf volljährige Personen bereits nicht anwendbar. [...]

Entsprechendes gilt für die Vorgaben des Art. 24 der EU-Grundrechtecharta (GRCh). Träger der Rechte des Art. 24 GRCh sind Kinder. Damit sind entsprechend Art. 1 der UN-Kinderrechtskonvention alle Menschen gemeint, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben (Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 5. Aufl. 2019, Art. 24 GRCh Rn. 18 m. w. N.; Jarass, in: Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 3. Aufl. 2016, Art. 24 Rn. 9 m. w. N.). Sobald das 18. Lebensjahr vollendet ist, endet der Schutzbereich des Art. 24 GRCh.

bb. Die Beschränkung des Elternnachzugs nach § 36a AufenthG auf die Minderjährigkeit des stammberechtigten Kindes steht auch im Einklang mit den grundrechtlichen und konventionsrechtlichen Schutz der Familie.

Aus Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Schutz des Privat- und Familienlebens) ergibt sich kein Anspruch auf Einreise und Aufenthalt (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, Rs. C-540/03, juris Rn. 53; Zeitler, HTK-AuslR, a.a.O., Rn. 5.1; BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013, a.a.O., Rn. 22; diese Vorschrift verpflichtet zu einer Abwägung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013, a.a.O., Rn. 24; EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2014, Jeunesse, Nr. 12738/10, Rn. 104 ff.). Gleiches gilt für Art. 7 der GRCh (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006, a.a.O., Rn. 58 ff.).

cc. Der Maßgeblichkeit des Zeitpunkts der mündlichen Verhandlung steht auch der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht entgegen. [...]

Die Ungleichbehandlung des Elternnachzugs zu ihren subsidiär schutzberechtigten Kinder vor und nach der Volljährigkeit der Kinder ist angesichts der oben dargestellten Unterschiede im Hinblick auf den Schutz des Kindes und der Familie gerechtfertigt.

Die Privilegierung des Familiennachzugs zu anerkannten Flüchtlingen im Gegensatz zu subsidiär Schutzberechtigten rechtfertigt sich aus den unterschiedlichen unionsrechtlich bedingten Verpflichtungen Deutschlands (s.o.). Diese Behandlung der Familienzusammenführung im Unionrechtsrecht geht auf die völkerrechtlichen Vorgaben zurück. [...]

Auch ein Eingriff in die Verbürgungen des Art. 6 Abs. 1 GG liegt nicht vor, wenn hinsichtlich des Zeitpunktes, zu dem die Minderjährigkeit noch gegeben sein muss, auf denjenigen der letzten mündlichen Verhandlung abgestellt wird. [...]

dd. Ein Verstoß gegen das aus Art. 20 Abs. 3 GG folgende Gebot der Rechtssicherheit ist ebenfalls zu verneinen. [...]