VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Beschluss vom 13.05.2020 - 15 E 1967/20 - asyl.net: M28479
https://www.asyl.net/rsdb/M28479
Leitsatz:

Keine pauschale Quarantänepflicht für aus dem Ausland Einreisende:

"1. Die Anordnung einer pauschalen Quarantänepflicht für aus dem Ausland Einreisende ist nicht zulässig, weil jedenfalls derzeit nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden kann, dass diese sämtlich ansteckungsverdächtig im Sinne des § 2 Nr. 7 IfSG sind (Anschluss an OVG Lüneburg, Beschluss vom 11.5.2020, 13 MN 143/20).

2. Die Anordnung einer Quarantänepflicht für Nichtstörer unter Bezugnahme auf § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG scheidet aus, weil diese Norm Voraussetzungen und Ausmaß einer Freiheitsentziehung entgegen Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG nicht hinreichend konkret bestimmt.

3. Die Anordnung einer Quarantänepflicht für aus dem Ausland Einreisende bleibt im Wege der Einzelfallprüfung möglich, wenn konkrete Anhaltspunkte für das Bestehen eines Ansteckungsverdachts vorliegen. Diese können sich in Anknüpfung an von der Behörde entwickelte (länderspezifische) Risikoprofile und Fallgruppen ergeben."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Corona-Virus, Einreise, Quarantäne, Freiheitsentziehung,
Normen: HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO § 30a Abs. 1 S. 1, IfSG § 28 Abs. 1 S. 1, IfSG § 2 Nr. 7, GG Art. 104 Abs. 1 S. 1, VwGO § 123 Abs. 1 S. 2, VwGO § 43 Abs. 1, IfSG § 30 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

29 a. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG, der für die Anordnung einer Quarantäne zumindest verlangt, dass der Betroffene ansteckungsverdächtig im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG ist, liegen voraussichtlich nicht unterschiedslos im Hinblick auf alle aus dem Ausland nach Hamburg einreisenden Personen vor. Eine Qualifizierung aller Einreisenden als ansteckungsverdächtig im Rechtssinne ist jedenfalls mittlerweile auch nicht mehr aufgrund einer zulässigen Pauschalierung der Fälle oder aufgrund fehlender belastbarer Informationen über die Infektionslage im Ausland möglich.

30 Die Kammer schließt sich insoweit den substantiierten rechtlichen Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts im Beschluss vom 11. Mai 2020 an (13 MN 143/20, juris Rn. 26 ff.). Darin wird in einem in Niedersachsen zulässigen Normenkontrollverfahren die dort maßgebliche Verordnungsvorschrift zur Quarantäne nach Einreise aus dem Ausland vorläufig außer Vollzug gesetzt. Die überzeugenden Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts lassen sich auf die in Hamburg geltende Rechtslage und § 30a Abs. 1 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO ohne weiteres übertragen, da in beiden Bundesländern durch Rechtsverordnung unter vergleichbaren Voraussetzungen eine Quarantänepflicht für Reiserückkehrer aus dem Ausland angeordnet wird.

31 In § 2 Nr. 7 IfSG wird der Ansteckungsverdächtige als eine Person definiert, von der anzunehmen ist, dass sie Krankheitserreger aufgenommen hat, ohne krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider zu sein. In seiner teilweise missverstandenen Leitentscheidung vom 22. März 2012 (3 C 16/11, BVerwGE 142, 205 ff., juris Rn. 31 f.) konkretisiert das Bundesverwaltungsgericht einen Ansteckungsverdacht zunächst so, dass dieser nur vorliege, wenn die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher sei als das Gegenteil. Für die erfolgreiche Abwehr hochgefährlicher und sich leicht ausbreitender Infektionen wäre dieser Maßstab völlig ungeeignet, besonders dann, wenn ein Infizierter vor Ausbruch der Krankheit bereits ansteckend ist oder die Infektion sogar symptomfrei verlaufen kann und Ansteckungsverdächtige deshalb praktisch nicht erkennbar sind. Entsprechend modifiziert das Bundesverwaltungsgericht im folgenden Abschnitt seines Urteils diesen Wahrscheinlichkeitsmaßstab anhand der allgemein im Polizei- und Ordnungsrecht geltenden Grundsätze dahingehend, dass an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts umso geringere Anforderungen zu stellen sind, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Bei hochansteckenden und teilweise tödlich verlaufenden Erkrankungen muss deshalb eine vergleichsweise geringe Wahrscheinlichkeit eines infektionsrelevanten Kontaktes genügen (BVerwG a.a.O. Rn. 32).

32 Auch an letztgenanntem Maßstab gemessen lässt sich bei aus dem Ausland einreisenden Personen zurzeit kein genereller Ansteckungsverdacht begründen. Belastbares wissenschaftliches Material gibt es hierzu offenbar nicht. § 30 HmbSARS-CoV-2-EindämmungsVO beruht insoweit auf der fiktiven Annahme, dass aufgrund der weltweiten Ausbreitung des Virus grundsätzlich jeder, der aus dem Ausland einreist, in Verdacht stehe, infiziert zu sein (Muster-VO zu Quarantänemaßnahmen für Ein- und Rückreisende zur Bekämpfung des Coronavirus, gemeinsam erarbeitet von den Innen- und Gesundheitsministerien von Bund und Ländern, 8.4.2020, S.7, www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/musterrv-quarantaene.pdf). Zudem wird – offenbar in Fehlverständnis der höchstrichterlichen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, s.o. – zur Begründung der den Länderverordnungen zu Grunde liegenden Musterverordnung die angesichts der Verbreitungsraten von Covid-19-Erkrankungen medizinisch offensichtlich falsche Behauptung aufgestellt, dass es wahrscheinlicher sei, dass eine Person, die in das Bundesgebiet einreist, Krankheitserreger aufgenommen hat, als das Gegenteil (Muster-VO S. 8). [...]

34 b. Auch eine Quarantänepflicht für Nichtstörer auf Grundlage einer auf der Generalklausel des § 28 Abs. 1 S.1 IfSG beruhenden Rechtsverordnung kommt aus rechtlichen Gründen nicht in Betracht. Nach Ansicht der Kammer darf neben § 30 IfSG nicht die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als zusätzliche und – da nicht auf die Heranziehung von Störern beschränkte – weitergehende materiell rechtliche Ermächtigungsgrundlage für eine Quarantänepflicht herangezogen werden (so aber OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 7.4.2020, 3 MB 13/20, juris Rn. 10).

35 Neben der Gesetzessystematik des IfSG, das in § 30 eine spezielle Regelung der Quarantänepflicht vorsieht, sprechen hiergegen gewichtige verfassungsrechtliche Gründe. So kann auch das bußgeldbewehrte Verbot, die eigene Wohnung oder das eigene Haus in einen Zeitraum von 14 Tagen zu verlassen, eine Freiheits - entziehung oder zumindest eine Freiheitsbeschränkung im Sinne von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und 104 Abs. 1 GG darstellen. Die Freiheit der Person darf nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, welcher insoweit den lediglich einfachen Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG überlagert (Murswiek/Rixen, in: Sachs, Grundgesetz, 8. Auflage 2018, Art. 2 GG Rn. 242; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, 89. Ergänzungslieferung Oktober 2019, Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, Rn. 42), nur durch ein formelles Gesetz eingeschränkt werden und unterliegt nach Art. 104 Abs. 2 GG weiteren Einschränkungen wie z.B. dem Richter - vorbehalt (vgl. das Interview mit dem Vorsitzenden des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, vom 7.5.2020, www.welt.de/politik/deutschland/plus207788651/Kontaktverbote-Auch-in-der- Krise-gilt-die-Verfassung.html, aufgerufen am 12.5.2020).

36 Eine Übertragung der Eingriffsbefugnisse vom parlamentarischen Gesetzgeber auf den Verordnungsgeber ist dabei zwar nicht ausgeschlossen, aber an (relativ) strenge Voraussetzungen geknüpft (Radtke, in: BeckOK Grundgesetz, Epping/Hillgruber, 42. Edition, Stand 1.12.2019, Art. 104 GG Rn. 6). So ist eine nähere Ausformung von Voraussetzungen und Ausmaß der Freiheitsentziehung zulässig, wenn das parlamentarische Gesetz selbst bestimmt, dass diese Rechtsfolge überhaupt in Betracht kommt, die Regelung der Voraussetzungen der Freiheitsentziehung nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmt vornimmt und eine im Übrigen verfassungsgemäße Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung enthält (vgl. Gusy, Freiheitsentziehung und Grundgesetz, NJW 1992, S. 457, 461). Selbst wenn man das Vorliegen dieser strengen Voraussetzungen hinsichtlich der speziellen Regelung zur Quarantäne in § 30 Abs. 1 i.V.m. § 32 IfSG bei summarischer Prüfung im Eilverfahren noch als erfüllt ansieht, kann dies hinsichtlich der Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG, die bezüglich Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Freiheitsentziehung keine konkreten Einschränkungen benennt, nicht mehr angenommen werden. Intensive Eingriffe in die Freiheit des Einzelnen können nicht durch Generalklausel in die Regelungskompetenz des Verordnungsgebers gestellt werden, weil mit der Eingriffsintensität die Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigungsnorm steigen. [...]