VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Urteil vom 27.05.2020 - AN 9 K 18.31016 - asyl.net: M28480
https://www.asyl.net/rsdb/M28480
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung in Äthiopien:

1. Flüchtlingsanerkennung für ein in Deutschland geborenes Mädchen, deren Eltern aus Oromia in Äthiopien stammen, wegen der Gefahr der Genitalverstümmelung.

2. Die Eltern werden sich, obwohl sie dagegen sind, nicht gegen die Großfamilie und Dorfgemeinschaft durchsetzen können.

3. Es besteht auch keine interne Fluchtalternative, weil der Aufbau einer neuen Existenzgrundlage an einem anderen Ort durch die Heuschreckenplage und die Corona-Pandemie erschwert wird.

(Leitsätze der Redaktion, vgl. zu den humanitären Bedingen auch VG Ansbach, Urteil vom 19.05.2020 - AN 3 K 17.33199 - asyl.net: M28477)

Schlagwörter: Äthiopien, Oromo, Genitalverstümmelung, Corona-Virus, Heuschreckenplage, interne Fluchtalternative, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Mädchen, Existenzgrundlage, interner Schutz,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin droht nach Überzeugung des Gerichts im Falle der Rückkehr nach Äthiopien wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der Frauen in Form der geschlechtsspezifischen Verfolgung, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsbeschneidung.

Eine konkret drohende Beschneidung ist geeignet, Flüchtlingsschutz zu begründen (VG Ansbach, U.v. 06.02.2019 - AN 3 K 17.34974 - juris; U.v. 22.08.2019 - AN 9 K 16.31675 - juris) und ist als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG einzustufen, denn diese Handlung knüpft an die Geschlechtszugehörigkeit an, da sie allein an Frauen und Mädchen vorgenommen wird und werden kann (VG Würzburg, U.v. 5.12.2014 - W 3 K 14.30001 - juris).

Ob die Beschneidung eines Mädchens tatsächlich verhindert werden kann, lässt sich für Mädchen in Äthiopien nicht generell und allgemeingültig beantworten, sondern richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere auch danach, ob sich die Eltern des betroffenen Kindes dem gesellschaftlichen Druck widersetzen und eine Beschneidung tatsächlich verhindern (vgl. BayVGH, 8.v. 22.07.2019 - 8 ZB 19.31614; B.v. 22.2.2017 - 9 ZB 17.30027 - juris Rn. 6; B.v. 21.11.2018 - 8 ZB 18.32980 - juris; B.v. 27.3.2019 - 8 ZB 19.30972). Zudem wird die tatsächliche Durchführung einer Beschneidung im Einzelfall davon abhängen, welchem Druck die jeweiligen Eltern etwa auch aus dem eigenen familiären Umfeld ausgesetzt sind oder sich diesem entziehen können (vgl. BayVGH, B.v. 30.6.2004 - 25 B 01.30985 - juris Rn. 25) und inwieweit ein Beschneider in Äthiopien bereit ist, trotz der Strafbarkeit der Beschneidung eine solche durchzuführen.

Denn die weibliche Genitalverstümmelung ist in Äthiopien illegal, aber die äthiopische Regierung zieht dieses Verbot nicht konsequent durch. Seit der Reformierung des Strafgesetzbuches 2005 ist die weibliche Genitalverstümmelung gemäß Art. 565 mit Geldstrafe ab 500 Birr oder mit mindestens dreimonatiger, in besonders schweren Fällen mit bis zu 10 Jahren Gefängnisstrafe bedroht. Trotz sinkender Zahlen bleibt diese nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet, so dass die Zahlen zwischen 56 % und über 70 % landesweit schwanken, wobei in städtischen Gebieten die weibliche Genitalverstümmelung weniger verbreitet ist. Am häufigsten ist sie in ländlichen Gebieten der an Dschibuti und Somalia grenzenden Regionen Somali und Afar sowie in der gesamten Region Oromia anzutreffen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Äthiopien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 08.01.2019, S. 30 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018).

Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen droht der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien die Genitalverstümmelung als Verfolgungshandlung.

Die Familie der Klägerin stammt aus einem ländlich geprägten Gebiet, sie ist islamischer Religionszugehörigkeit und gehört zur Ethnie der Oromos, bei denen die Genitalverstümmelung - wie oben dargelegt - besonders weit verbreitet ist. Damit ist glaubhaft dargelegt, dass die Klägerin sich bei einer Rückkehr zu ihrer Großfamilie einer Genitalverstümmelung nicht entziehen wird können, obwohl ihre Eltern die Genitalverstümmelung selbst ablehnen. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Eltern der Klägerin in der patriarchalisch dominierten und von Traditionen stark geprägten Gesellschaft des Dorfes und ihrer Großfamilie gegenüber den - insbesondere älteren und männlichen - Leitfiguren keine greifbare Möglichkeit hätten, die Genitalverstümmelung der Klägerin zu verhindern.

Die staatlichen äthiopischen Stellen sind nicht effektiv in der Lage, der Klägerin von nichtstaatlichen Akteuren - hier vor den Mitgliedern der Familie - Schutz vor Verfolgung zu bieten. Gerade im ländlich geprägten Raum existiert kein flächendeckender Schutz durch Organisationen oder die äthiopische Regierung vor Genitalverstümmelung.

Eine inländische Fluchtalternative, beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba, ist für die Klägerin nicht gegeben. Die Gründung einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Existenz in anderen Landesteilen Äthiopiens ist bereits angesichts des niedrigen Existenzniveaus, der Schwierigkeit, Land zu erwerben sowie aufgrund ethnischer und sprachlicher Abgrenzungen schwierig. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse in Äthiopien derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der im Land herrschenden Heuschreckenplage geprägt sind.

Aus den zum Verfahrensgegenstand gemachten Unterlagen ergibt sich Folgendes:

Experten befürchten durch das Corona-Virus für den gesamten afrikanischen Kontinent eine Katastrophe. Sie nehmen eine extrem hohe Dunkelziffer an Infizierungen an und warnen insbesondere davor, dass sich überfüllte afrikanische Großstädte zu einem gefährlichen Herd für das Corona-Virus entwickeln könnten. Aufgrund der oftmals schlecht ausgestatteten Gesundheitssysteme - so soll es z.B. in Äthiopien für 105 Mio. Menschen 435 Beatmungsgeräte geben (Berliner Zeitung.de Politik-Gesellschaft vom 9.4.2020) - wird in Afrika durch die Pandemie eine ausmaßlose Katastrophe für möglich gehalten.

Nach einem Bericht der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi vom 14.4.2020 hat Äthiopien für vorerst 5 Monate den Ausnahmezustand angeordnet. Damit sind alle Schulen, Universitäten und Kirchen geschlossen, Beamte sollen von zu Hause aus arbeiten. Mehr als 4.000 Gefangene wurden begnadigt, die äthiopische Fluglinie Ethiopian Airlines stellte die Flüge zu 82 Zielen ein. In der Region Tigray wurde der Ausnahmezustand ausgerufen und alle Bewegungen von den ländlichen Gebieten in die Städte untersagt.

Diese Angaben werden so auch in den "Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes", Stand: 15.4.2020, wiedergegeben. Danach müssen nach Äthiopien Einreisende sich auf eigene Kosten in eine 14-tägige Quarantäne in einem von der äthiopischen Regierung bestimmten Hotel begeben. Der Empfang von Besuchern dort ist nicht erlaubt. Die bisher landesweit geltenden Restriktionen umfassen das Verbot größerer Veranstaltungen, die Schließung aller Schulen, Restaurants und Clubs. Öffentliche Ämter sind seit 24.3.2020 bis auf einen Notbetrieb geschlossen. In allen Bundesstaaten wurde der öffentliche Personenverkehr verboten; Reisen aus Addis Abeba über Land sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln derzeit nicht möglich. In vielen Städten herrschen weitreichende Ausgangssperren. In Gondar z.B. ist sowohl öffentlicher als auch privater Personennahverkehr verboten. Alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte sind geschlossen.

Die für den 29.8.2020 geplanten Parlamentswahlen sind auf unbestimmte Zeit verschoben. Neben der Corona-Pandemie und den damit für die Bevölkerung Äthiopiens einhergehenden Bedrohungen auch in wirtschaftlicher Hinsicht droht den Staaten des östlichen Afrika eine Hungersnot, seit  gewaltige Heuschreckenschwärme eingefallen sind. Der Kampf gegen Corona verschlimmert die Lage noch. Infolge der bereits dargestellten Reisebeschränkungen ist es den Trupps, die versuchen, die Kurzfühlerschrecken mit Pestiziden zu bekämpfen, nahezu unmöglich, an ihre Einsatzorte zu kommen. Das ermöglicht den Insekten, sich ungehemmt zu vermehren. Die nun bevorstehende zweite Heuschreckengeneration könnte 500 mal so gewaltig wie die erste sein, wenn sie nicht bekämpft wird. Die gefräßigen Tiere sind mobil, ihre Jäger sind es nicht, so Thilo Thielke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung "Nur die Heuschrecken sind noch mobil" v. 7.4.2020. Im Dezember hatte die Invasion der Heuschrecken begonnen. Sie fraßen kahl, was auf ihrem Weg lag und zerstörten die Ernte. Es handelt sich aktuell um die schlimmste Plage seit 25 Jahren. Weil viele Länder ihre Grenzen geschlossen haben, gehen in Ostafrika die für die Bekämpfung der Heuschreckenplage erforderlichen Pestizide aus.

Die nach Auffassung des Gerichts derzeit zu berücksichtigenden prekären Lebensbedingungen sind z.Zt. im Hinblick auf die der herrschenden Pandemie immanenten Beschränkungen und die daraus folgenden Probleme der Erlangung eines Zugangs zu Arbeit und adäquater Unterkunft, zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und zur Erlangung der für die Befriedigung elementarer Bedürfnisse nötigen finanziellen Mittel sowie der durch die Heuschreckenplage zusätzlich zur Pandemie verursachten schwierigen wirtschaftliche Situation nach Auffassung des Gerichts gegeben. [...]