SG Berlin

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Zitieren als:
SG Berlin, Beschluss vom 19.05.2020 - S 90 AY 57/20 ER - asyl.net: M28482
https://www.asyl.net/rsdb/M28482
Leitsatz:

Keine Einstufung von Alleinstehenden in Sammelunterkünften in Regelbedarfsstufe 2 während Corona-Eindämmungsmaßnahmen:

1. Die Zuordnung alleinstehender Leistungsberechtigter in einer Gemeinschaftsunterkunft zur Regelbedarfsstufe 2 ist verfassungskonform jedenfalls dahingehend auszulegen, dass es ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal ist, dass das "gemeinsame Wirtschaften" alleinstehenden Leistungsberechtigten auch zumutbar sein muss.

2. Während der Corona-Eindämmungsmaßnahmen ist ein gemeinsames Wirtschaften nicht zumutbar. Daher besteht für deren Geltungsdauer ein Anspruch auf Leistungen nach der Regelbedarfsstufe 1. Dieser Anspruch ist auch durch eine einstweilige Anordnung durchsetzbar.

3. Die Klärung, ob darüber hinaus die Zuordnung alleinstehender Leistungsberechtigter in einer Gemeinschaftsunterkunft zur Regelbedarfsstufe 2 verfassungskonform ist, bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylbewerberleistungsgesetz, Bedarfsstufe, Bedarfsgemeinschaft, Sozialrecht, alleinstehend, Gemeinschaftsunterkunft, Sozialstaatsprinzip, Existenzminimum, Gleichheitsgrundsatz, allgemeiner Gleichheitssatz, Bedarf, Regelleistung, Grundleistungen, Aufnahmeeinrichtung, Regelbedarf, Gemeinschaftsunterbringung, gemeinsames Wirtschaften, soziokulturelles Existenzminimum, Bargeldbedarf, vorläufiger Rechtsschutz, Schicksalsgemeinschaft, Sammelunterkunft, Verfassungsmäßigkeit, Einspareffekt, Paarhaushalt, verfassungskonforme Auslegung, Auslegung, Leistungskürzung, alleinstehend, Corona-Virus,
Normen: AsylbLG § 3a Abs. 1 Nr. 2b, GG Art. 1 Abs. 1, GG Art. 20 Abs. 1, GG Art. 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die Norm ist aber verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass jedenfalls für die Zeit, in welcher Kontaktbeschränkungen und Abstandsregeln zur Eindämmung des neuartigen Coronavirus bestehen, konkret vorliegend damit für den Zeitraum der Geltung der "Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-00V-2 in Berlin" (SARS-CoV-2-Eindämmungsmaßnahmenverordnung - SARS-00V-2-EindmaßnV), welche am 22. März 2020 auf Basis des § 32 S. 1 IfSG erlassen und zuletzt mit Wirkung zum 7. Mai 2020 geändert wurde, die Vorschriften des § 3a Abs. 1 Nr. 2b) sowie Abs. 2 Nr. 2b) AsylbLG als ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal die zumutbare gemeinschaftliche Haushaltsführung des Leistungsberechtigten mit anderen in der Sammelunterkunft Untergebrachten voraussetzen.

(1) Grund der Einordnung von Bewohnern von Sammelunterkünften in die RBS 2 ist nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 19/10052, S. 23 ff.), dass eine Gemeinschaftsunterbringung für die Bewohner solcher Unterkünfte ebensolche Einspareffekte zur Folge habe wie dies im Paarhaushalten der Fall sei. [...]

(2) Ungeachtet der Frage, ob die Grundannahme dieser Überlegung - nämlich dass in Sammelunterkünften Einspar- bzw. Synergieeffekte erzielt werden können, welche denen von Paarhaushalten gleichen - ohne weitergehende empirische Datenlage verfassungsmäßig haltbar ist (dies zur Parallelvorschrift des § 2 Abs. 1 S. 4 Nr. 1 AsylbLG verneinend und vor diesem Hintergrund die Verfassungsmäßigkeit anzweifelnd beispielsweise SG Frankfurt a. M., Beschluss vom 14. Januar 2020 - S 30 AY 26/19 ER und SG Landshut, Beschluss vom 24. Oktober 2019 - S 11 AY 64/19 ER), kann nach Ansicht der Kammer jedenfalls während der Geltungsdauer der SARS-CoV-2-EindmaßnV ein gemeinsames Wirtschaften in diesem Sinne nicht pauschal verlangt werden.

(a) Nach § 1 SARS-CoV-2-EindmaßnV hat jede Person die physisch sozialen Kontakte zu anderen Menschen auf ein absolut nötiges Minimum zu reduzieren (S. 1). Bei Kontakten im Sinne von S. 1 ist ein Mindestabstand von 1,5 Metern einzuhalten, soweit die Umstände dies zulassen (S. 2). S. 1 und 2 gelten nicht für Ehe- oder Lebenspartnerinnen und -partner, Angehörige des eigenen Haushalts und für Personen, für die ein Sorge- und Umgangsrecht besteht (S. 3).

Während diese Regeln für "Paarhaushalte" nicht gelten, weil für sie die genannte Ausnahme des § 1 5. 3 SARS-CoV-2-EindmaßnV greift, sind Leistungsberechtige, welche in Sammelunterkünften untergebracht sind, an die Regeln gebunden. § 1 S. 3 SARS-CoV-2-EindmaßnV ist nach Ansicht der Kammer auch nicht dahingehend auszugehen, dass mit den "Angehörigen des eigenen Haushalts" sämtliche Bewohner einer Gemeinschaftsunterkunft gemeint sind, da zum einen dem Sinn und Zweck nach die (nach allgemeinen Grundsätzen eng auszulegende) Ausnahme auf Einstehensgemeinschaften wie Partner oder Sorgeberechtigte beschränkt ist und zum anderen - ebenfalls nach dem Sinn und Zweck - ein zu großer Haushaltsbegriff im Sinne einer gesamten Unterkunft hiervon nicht mehr gedeckt sein kann, da gerade hier eine schnelle und unkontrollierte Verbreitung des Coronavirus zu befürchten wäre. Diese Auslegung wird auch dadurch bestätigt, dass der Antragsgegner selbst vorträgt, dass im Zimmer des Antragstellers nach Möglichkeit Abstand zu halten und ausreichend für Hygienemaßnahmen und das Tragen eines Mundschutzes Sorge zu tragen sei. [...]

(b) Nach Ansicht der Kammer aber ist ein gemeinsames Wirtschaften, welches "Einspareffekte zur Folge hat, die denen in Paarhaushalten im Ergebnis vergleichbar sind" (Gesetzesbegründung s.o.), unter diesen Abstandsregeln im Rahmen der Unterbringung von Flüchtlingen in einer Sammelunterkunft nicht pauschal zu verlangen.

Dies ergibt sich zum einen aus den weiteren Veröffentlichungen des RKI zur gesundheitlichen Situation von Flüchtlingen, welche zwar nicht spezifisch zur derzeitigen Corona-Pandemie, sondern allgemeiner zu Infektionskrankheiten ergangen sind. Da es sich beim neuartigen Coronavirus aber um eine solche Infektionskrankheit handelt, sind die entsprechenden Erkenntnisse nach Ansicht der Kammer unproblematisch zu übertragen. So schreibt das RKI im Jahr 2017 in der vom Antragsteller überreichten Publikation (Frank u.a., Gesundheit und gesundheitliche Versorgung von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Deutschland, Journal of Health Monitoring, 2017, 24, 32, www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsJ/Focus/JoHM_2017_01_gesundheitliche_lage1b.pdf?__blob=publicationFile):

"Asylsuchende sind grundsätzlich durch die gleichen Infektionskrankheiten gefährdet wie die in Deutschland lebende Bevölkerung. Sie sind jedoch aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen während der Flucht, eines möglicherweise unvollständigen Impfschutzes, der teils höheren Prävalenzen in den Herkunftsländern und infolge des räumlich beengten Aufenthaltes in Massenunterkünften besonders vulnerabel für Infektionskrankheiten. Das Robert Koch-Institut sieht derzeit weiterhin keine erhöhte Infektionsgefährdung der Allgemeinbevölkerung durch Asylsuchende. In Erstaufnahmeeinrichtungen besteht jedoch generell eine große Sorge vor Ausbrüchen übertragbarer Erkrankungen. Eine Analyse der Meldedaten zu Ausbrüchen von Infektionserkrankungen gemäß Infektionsschutzgesetz in Gemeinschaftsunterkünften von Asylsuchenden im Zeitraum von 2004 bis 2014 zeigte eine steigende Anzahl an Ausbrüchen über diesen Zeitraum. Deutlich wurde auch, dass sich die Erkrankten in den meisten Fällen in Deutschland angesteckt hatten."

In Folge sind Flüchtlinge in Sammelunterkünften zu besonderer Vorsicht und Wahrung der Hygienemaßnahmen und Abstandsregeln gehalten, da sie sich in einer Situation befinden, in welcher eine Erkrankung an Covid-19 ggf. wahrscheinlicher ist als für andere Personen und an anderen Orten. Daher muss es Flüchtlingen wie dem Antragsteller dem Grunde nach möglich sein, den empfohlenen Abstand zu wahren, ohne zu anderweitigen Kontakten zu anderen Bewohnern der Sammelunterkunft gezwungen zu werden.

Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die von der o.g. Gesetzesbegründung vorausgesetzte gemeinsame Anschaffung von Lebensmitteln oder Küchengrundbedarf "in größeren Mengen" bei gemeinsamer Nutzung der Gemeinschaftsküche in einer Sammelunterkunft nicht ohne Weiteres möglich. Die gemeinsame Anschaffung von Lebensmitteln setzt Absprachen und Verabredungen voraus, zudem bei entsprechender Vorratshaltung auch eine gewisse gemeinschaftliche Koordinierung. Aufgrund der Notwendigkeit, Kontakte zu minimieren, werden Miteinkäufe "auf Zuruf" beispielsweise angelegentlich des Einkaufs eines Mitbewohners jedenfalls teilweise wegfallen müssen mit der Folge, dass ein koordiniertes Vorgehen mehrerer Menschen notwendig ist. Dies aber ist unter der Prämisse, möglichst wenig Kontakt einzugehen, nur eingeschränkt möglich, weshalb es von den konkreten Gegebenheiten abhängt, ob eine solche Koordinierung zumutbar erfolgen kann.

Weiterhin ist die gemeinsame Nutzung der Gemeinschaftsküche abhängig von den jeweiligen Gegebenheiten vor Ort. Ist eine solche vorhanden, ist zu berücksichtigen, welchen Zuschnitt diese hat und ob diese das gemeinsame Kochen mehrerer Menschen unter Wahrung der Abstandsregeln ermöglicht.

In Bezug auf die in der o.g. Gesetzesbegründung vorausgesetzte Möglichkeit zur gemeinsamen Nutzung oder zum Austausch bei den Bedarfen an Freizeit, Unterhaltung und Kultur (Abteilung 9 der EVS 2013) sind ebenfalls die konkreten Gegebenheiten zu berücksichtigen. Abteilung 9 sieht dabei vor allem solche Ausgaben vor, welche für die Nutzung von Medien nötig sind (z.B. Wiedergabegeräte, Fernsehgeräte, Bild-, Daten- und Tonträger, Instrumente, Spielzeuge, Sportartikel etc.) (vgl. Schwabe, Einzelbeträge aus den Leistungssätzen für Grundleistungen nach dem AsylbLG ab 1. September 2019, ZfF 2019, 217, 223). In Folge verlangt die gemeinsame Nutzung entweder eine Nutzung nacheinander (z.B. Sportartikel) oder aber eine gemeinsame Nutzung bei in der Regel gleichzeitiger physischer Präsenz (z.B. Videos, Fernsehen). Hier setzt die Möglichkeit der Nutzung unter Wahrung von Abstandsregeln einen entsprechenden Zuschnitt von Gemeinschaftsräumen oder eine hinreichend vorhandene Anzahl entsprechender Gegenstände voraus, weiter bei Nutzung nacheinander die Möglichkeit zur hinreichenden Desinfektion. [...]