Abschiebungsverbot für psychisch kranke Person aus Somalia:
1. Psychische Erkrankungen können in Somalia nicht ausreichend behandelt werden. Psychisch kranken Personen drohen gesellschaftliche Ausgrenzung und menschenrechtswidrige Behandlungsmethoden. Das Gesundheitssystem in eines der schlechtesten der Welt.
2. Aufgrund der schlechten humanitären Lage ist eine psychisch schwer kranke Person nicht in der Lage, ihre Existenz eigenständig zu sichern.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
43 Bei realistischer Betrachtungsweise kann der Kläger keine adäquate ärztliche Behandlung in Somalia erwarten. Die medizinische Versorgung ist im gesamten Land äußerst mangelhaft. Die öffentlichen Krankenhäuser sind unzureichend ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden (AA, Lagebericht vom 04.03.2019).
44 Auch nach den Erkenntnissen des österreichischen Bundesamts für Asyl zählt die Gesundheitslage in Somalia zu den schlechtesten der ganzen Welt (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018). Die Förderung von Gesundheitsprogrammen ist gering. Erhebliche Teile der Bevölkerung haben keinen Zugang zu hinreichenden sanitären Einrichtungen. Medizinische Grunddienste stehen nicht ausreichend zur Verfügung. Allerdings variiert der Zugang zu medizinischer Versorgung. Da es kein staatliches Gesundheitssystem gibt, ist die Versorgungslage maßgeblich davon abhängig, wie sehr der Zugang für lokale und internationale Hilfsorganisationen in einem Gebiet gewährleistet ist. Folglich ist die Versorgungslage in den größeren Städten besser. Schätzungsweise 80% der Bevölkerung haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die öffentlichen Krankenhäuser sind mangelhaft ausgestattet, was Ausrüstung/medizinische Geräte, Medikamente, ausgebildete Kräfte und Finanzierung angeht. Zudem behindert die unzureichende Sicherheitslage ihre Arbeit. Versorgungs- und Gesundheitsmaßnahmen internationaler Hilfsorganisationen mussten auch immer wieder wegen Kampfhandlungen oder aufgrund von Anordnungen örtlicher (islamistischer) Machthaber unterbrochen werden. Gesundheitspersonal ist rar und Spitäler sind aufgrund von Unterfinanzierung von Schließungen gefährdet. Allerdings sind z.B. in Mogadischu seit 2014 einige Gesundheitseinrichtungen, Spitäler und Kliniken neu eingerichtet worden.
45 Nicht besser stellt sich die Situation psychisch Kranker dar. Zur Betreuung psychischer Erkrankungen gibt es insgesamt lediglich fünf Zentren. Diese befinden sich in Berbera, Bossaso, Garoowe, Hargeysa und Mogadischu. Allerdings arbeiten insgesamt nur drei Psychiater an diesen Einrichtungen (BFA Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Somalia, Somaliland - Gesamtaktualisierung 12.01.2018; Update: 17.09.2018).
46 Nach den Erkenntnissen des "Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation - ACCORD" halten die kulturellen Normen Menschen davon ab, psychische Gesundheitsprobleme einzugestehen oder sich mit diesen auf konstruktive Weise auseinanderzusetzen. Psychische Störungen sind in Somalia aufgrund eines fehlenden Bewusstseins und fehlender Bildung hinsichtlich dieser Angelegenheit in der Bevölkerung mit einem Stigma belegt. Aufgrund des Mangels an Behandlungseinrichtungen und Ausbildung in psychischen Gesundheitsdiensten sind die Familien gezwungen, mit diesen Erkrankungen selbst fertig zu werden, was zu einer Falschdiagnose und grausamen Behandlungsmethoden wie "in Ketten legen" und Inhaftierung führt. Der Großteil der "Behandlung" in Somalia beruht nicht auf wissenschaftlicher Forschung oder standardisierter medizinischer Praxis, sondern ist eher ein Bewältigungsmechanismus, um die Patienten davon abzuhalten, sich selbst oder andere zu verletzten. Viele Somali mit psychischen Erkrankungen sind gesellschaftlich abgeschottet und gefährdet. Die Qual dieser Abschottung wird stark verspürt, da die somalische Kultur traditionell kommunal und familiär orientiert ist. Psychisch Kranke werden im Allgemeinen in Ketten gelegt oder eingesperrt und laut einem Bericht der WHO vom Oktober 2010 zur psychischen Gesundheit in Somalia stigmatisiert, diskriminiert und gesellschaftlich abgeschottet. Erniedrigende und gefährliche kulturelle Praktiken wie das "in Ketten legen" sind sogar gesellschaftlich und medizinisch akzeptiert. Traditionelle Heiler spielen eine wichtige Rolle. Dienste zur psychischen Gesundheitsversorgung stehen in Somalia nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung, weisen einen Mangel an angemessener Ausrüstung auf und können geografisch nur eingeschränkt die Bedürfnisse des Landes abdecken (ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Anfragebeantwortung zu Somalia: Lage von Personen mit psychischen Störungen, Erkrankungen oder Einschränkungen sowie zum psychischen Gesundheitssystem vom 23.02.2017).
47 Dass die Praxis, psychisch Kranke wegzusperren und in Ketten zu legen, immer noch ein Problem darstellt, wird auch in einem Bericht der WHO aus dem Jahr 2017 (WHO 2017a: Somalia – Mental Health, www.emro.who.int/som/programmes/mental-health.html) erwähnt, auch wenn es hiernach mittlerweile "Chain-Free"-Initiativen gibt:
48 "The practice of keeping mentally ill people in chains is common in Somalia, a sign of a lack of adequate mental health care services. The Chain-Free Initiative aims to restore the rights and dignity of mentally-ill persons by advocating for chain-free hospitals, chain-free homes and a chainfree environment where mentally ill patients can receive treatment and care. With the support of WHO, the Initiative has been implemented at the Habeeb Hospital in Mogadishu and at the Hargeisa Group Hospital mental health ward."
49 Angesichts der in Somalia nicht gewährleisteten Behandlung, der erheblichen gesellschaftlichen Diskriminierung psychisch Kranker sowie der im Falle einer Abschiebung, die einen erhebliche "Stressor" darstellen würde, zu befürchtenden Verschlimmerung der psychotischen Symptomatik ist davon auszugehen, dass eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Klägers bereits in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Rückkehr nach Somalia eintreten würde. [...]
54 Die schlechten Lebensbedingungen in Somalia führen allerdings für sich allein genommen nicht dazu, dass Abschiebungen wegen eines Verstoßes gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK stets unzulässig sind. Das Gericht ist indes aufgrund der individuellen Umstände im Falle des Klägers davon überzeugt, dass sich die ohnehin schwierige Situation in Somalia für den Kläger derart zuspitzten würde, dass die Voraussetzungen für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK vorliegen.
55 Es bestehen individuelle gefahrerhöhende Umstände im Falle des Klägers. Eine Abschiebung ist nur nach Mogadischu - theoretisch - denkbar. Dort hätte der psychisch kranke Kläger, wenn man von seinen aktuellen Angaben ausgeht, wonach in Somalia keine Angehörigen mehr leben, aber keine Unterstützung durch seine Familie und auch sonst keinen Anlaufpunkt. Deshalb dürfte bei lebensnaher Betrachtungsweise zu erwarten sein, dass er nur in einem der überbevölkerten Flüchtlingslager in oder bei Mogadischu unterkommen könnte, in denen aber letztlich - auch für psychisch Gesunde - untragbare Zustände herrschen. Es kommt dort durch das sog. Gatekeeper-System zu Unterdrückung und schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen innerhalb der Lager, insbesondere dann, wenn jemand wie der Kläger allein und damit schutzlos ist (vgl. im Einzelnen SFH - Situation intern Vertriebener, 25.10.2013). Die Zahl der Binnenvertriebenen in Süd- und Zentralsomalia beträgt mehr als 1,5 Millionen; viele von ihnen sind akut von Nahrungsmittelknappheit bedroht (ACCORD, Länderkurzübersicht Somalia, September 2016; BFA Österreich, Länderinformationsblatt Somalia vom 12.01.2018 sowie Kurzinformation, 20.09.2016; IDMC und NRC - Somalia: Over a million IDP’s need support for local solutions; Humanitarian Bulletin Somalia, 16.07.2015). Rückkehrer aus dem Ausland konkurrieren mit dieser großen Zahl an intern Vertriebenen um die ohnehin nicht ausreichenden Ressourcen des Landes. Wenn eine Person in einem Gebiet weder über eine Kernfamilie noch über Verwandte verfügt, wird sie sich in einem IDP-Lager wiederfinden und sich keinen Lebensunterhalt sichern können; eine erfolgreiche Reintegration hängt also in erheblichem Maße von den lokalen Beziehungen der rückkehrenden Person ab (BFA Österreich, Länderinformationsblatt vom 04.03.2018; VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Diese Situation dürfte sich durch die aktuell drohende schwere Hungersnot aufgrund einer ausgeprägten Dürreperiode noch weiter verschärft haben (vgl. BFA Österreich, Kurzinformation vom 20.09.2016). Ein wesentlicher Grund für diese humanitäre Krise besteht weiterhin darin, dass bewaffnete Gruppen die Arbeit von Hilfsorganisationen behindern. Er ist also letztlich in dem in Somalia bestehenden innerstaatlichen Konflikt zu sehen. Die prekären humanitären Verhältnisse sind mithin mit anderen Worten nicht nur auf Dürreperioden zurückzuführen, sondern werden maßgeblich von den Konfliktparteien verursacht und ausgenutzt (VG Halle, Urteil vom 21.02.2019 - 4 A 58/17 - juris). Durch die jetzt drohende Heuschreckenplage dürfte sich die allgemeine Situation sogar noch weiter verschlimmert haben. Im Falle des Klägers stellt sich die hiernach ohnehin schon äußerst prekäre allgemeine Situation in Somalia aufgrund seiner psychischen Erkrankung sogar noch weit drastischer dar.
56 Wenn man davon ausgeht, dass der Kläger in Somalia keine Familienangehörige hat, würde auch außerhalb eines Flüchtlingslagers seine infolge seiner psychischen Erkrankung eingeschränkte Arbeitskraft offenkundig nicht ausreichen, um das Existenzminimum zu sichern. Er ist aufgrund seiner schweren psychischen Erkrankung auf absehbare Zeit nicht in der Lage, seine Angelegenheiten selbst zu besorgen. Hieran bestehen gerade auch angesichts der Bestellung eines gesetzlichen Betreuers in Deutschland keine Zweifel. Der Kläger ist weder gesund noch arbeitsfähig, sondern gehört einer vulnerablen Gruppe an. Hinzu kommt, dass damit zu rechnen ist, dass sich die Erkrankung des Klägers mangels Erreichbarkeit der erforderlichen medizinischen Versorgung in Somalia deutlich und zeitnah verschlechtern wird.
57 Selbst wenn der Kläger noch über familiäre Bindungen in Somalia verfügen sollte, wie die Beklagte annimmt, ist angesichts seiner individuellen Situation anzunehmen, dass er dennoch nicht in der Lage sein wird, in dem äußerst prekären sozialen und wirtschaftlichen Umfeld in Mogadischu seine humanitären Grundbedürfnisse in einer Weise zu decken, die ihn vor einer Verelendung und äußerster Verarmung bewahren kann (vgl. VG Hannover, Urteil vom 07.06.2019 - juris/BAMF). Auch der Gerichtsgutachter hat schlüssig, nachvollziehbar und damit überzeugend festgestellt, dass der Kläger aufgrund der Schwere seiner Erkrankung bei einem unterstellten Abbruch der Behandlung selbst im Falle einer umfangreichen Unterstützung durch Familienangehörige nicht in der Lage wäre, seine Existenz eigenständig zu sichern (Gutachten Prof. ..., S. 14). Bei der paranoiden Schizophrenie handle es sich um eine schwere psychische Erkrankung, die medikamentös behandelt, aber nicht geheilt werden könne. Bei dem Kläger spreche das Fortbestehen der halluzinatorischen Symptomatik trotz antipsychotischer Medikation ihr für einen komplizierten Verlauf. Es sei schwer vorstellbar, dass er in seinem jetzigen psychischen Zustand in einer schwierigen Gesamtsituation in Somalia sich selbst ernähren könne. Die Unterstützung von Familienangehörigen würde sich positiv auf die psychische Erkrankung auswirken. Dennoch sei der Kläger primär auf eine adäquate psychiatrische Behandlung und Pharmakotherapie angewiesen. Ohne diese sei es ihm auch mit umfangreicher Unterstützung nicht möglich, seine Existenz zu sichern. Auch diese Schlussfolgerung des Gerichtsgutachters ist überzeugend, da sie schlüssig und auf der Grundlage der gestellten Diagnose ohne weiteres nachvollziehbar ist. [...]