VG Saarland

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Zitieren als:
VG Saarland, Urteil vom 04.06.2020 - 6 K 1953/18 - asyl.net: M28495
https://www.asyl.net/rsdb/M28495
Leitsatz:

Kein Widerruf der Flüchtlingsanerkennung einer Syrerin mit armenischer Volkszugehörigkeit:

Sprechen syrische Staatsangehörige aus Aleppo mit armenischer Volkszugehörigkeit kein Arabisch, so ist daraus nicht zwingend zu schließen, dass sie über ihre Staatsangehörigkeit getäuscht haben. Vielmehr erscheint die fehlende Sprachkenntnis vor dem Hintergrund der kulturellen und wirtschaftlichen Eigenständigkeit der armenischen Syrer*innen in Aleppo nachvollziehbar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Syrien, Armenier, Arabisch, Arabischkenntnisse, Armenisch, Staatsangehörigkeit, Herkunftsland, Widerruf, Rücknahme, Flüchtlingsanerkennung, Beweislast, Aleppo,
Normen: AsylG § 73,
Auszüge:

[...]

2. Die zulässige Klage ist in ihrem Hauptantrag begründet. Der angefochtene Bescheid vom 9. Oktober 2018, mit dem die mit Verfügung vom 9. März 2015 ausgesprochene Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen wurde, ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). [...]

Nach diesem Maßstab unterliegt die streitgegenständliche Rücknahmeentscheidung der Aufhebung. Das Gericht konnte nach dem Eindruck der mündlichen Verhandlung nicht die erforderliche Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) davon gewinnen, dass die Klägerin - worauf die Beklagte die Rücknahme hier alleine stützt - in ihrer Anhörung falsche Angaben gemacht hat, indem sie sich als syrische Staatsangehörige ausgegeben hat.

Zwar weist die Beklagte im Ausgangspunkt völlig zutreffend darauf hin, dass es Fragen aufwirft, wenn die Klägerin einerseits angibt, syrische Staatsangehörige zu sein, andererseits aber erklärt, des Arabischen nicht mächtig zu sein. Ihre fehlenden Arabischkenntnisse hat die Klägerin, die in der mündlichen Verhandlung einen glaubhaften Eindruck hinterlassen hat, indes damit erklärt, sie stamme aus einer armenischstämmigen Familie und habe das armenische Stadtviertel ..., in dem sie mit ihren Eltern und ihrer Schwester gelebt habe, wegen ihres strengen Vaters kaum verlassen dürfen. Im alltäglichen Umgang innerhalb der armenischen Gemeinschaft in Aleppo sei armenisch gesprochen worden, und erforderliche "offizielle" Geschäfte, etwa Behördengänge, habe ihr Vater, der auch Arabisch gesprochen habe, für die Familie erledigt. Diese Angaben, insbesondere der tägliche Gebrauch der armenischen Sprache in ihrem Stadtviertel, erscheinen dem Gericht nachvollziehbar. Insbesondere entspricht es der Erkenntnislage, dass in Aleppo vor Ausbruch des Bürgerkrieges eine große Zahl armenischer Syrer lebte, der das Assad-Regime eine recht weitgehende - auch kulturelle und wirtschaftliche - Eigenständigkeit gewährte. So führt etwa das Auswärtige Amt für die Zeit vor 2011 aus, die syrische Regierung habe unter anderem gegenüber der ethnischen Minderheit der Armenier, wie auch gegenüber Christen, eine Politik der "langen Leine" praktiziert inklusive vergleichsweise freier Entfaltung des kulturellen und religiösen Lebens, solange die Minderheiten sich auf die Pflege der Sprache, Kultur und des Brauchtums beschränkten und nicht den Verdacht erweckten, unter dem Deckmantel kultureller Betätigung politische Opposition zu betreiben. Es gebe armenische Schulen im Land; Minderheitssprachen (Kurdisch, Aramäisch, Armenisch) seien auch in der Öffentlichkeit zugelassen. Eine niederländische Delegation berichtete 1997 an den Rat der Europäischen Union, innerhalb der armenischen Minderheit in Syrien sei Armenisch die Umgangssprache ("everyday language"). [...]

Auch mit dem im Klageverfahren im Wesentlichen bemühten Argument, die Klägerin könne keine syrische Staatsangehörige sein, weil der vorgetragene mehrjährige Schulbesuch in Syrien zwingend Arabischkenntnisse voraussetze, genügt die Beklagte ihrer Darlegungs- und Beweislast im Sinne des § 73 Abs. 2 AsylG im hier zu beurteilenden Einzelfall nicht. Denn zwar lässt sich dem zur Akte gereichten Bericht "Armenier in Syrien - Eine Halbe Heimat" vom 14. Dezember 2007 entnehmen, der Unterricht in der seitens der Verfasserin des Berichts in Aleppo besuchten armenischen Schule habe in den meisten Fächern auf Arabisch stattgefunden; Armenisch werde nur zusätzlich geehrt. Davon abweichend berichtete indes die niederländische Delegation im Jahr 1997 an den Rat der Europäischen Union ausdrücklich (European Union, The Council, Note from the Netherlands delegation an the overall situation in Syria v. 11.11.1997, Az. 11977/97, S. 18), der Unterricht finde in armenischen Schulen auf Armenisch statt. Angesichts der Tatsache, dass der letztgenannte Bericht zeitlich näher an der Schulzeit der 1984 geborenen Klägerin liegt und die Klägerin ihren Schulbesuch in der ...-Schule, einer armenischen Grundschule in Aleppo (en.wikipedia.org/wiki/Armenians_in_Syria#Armenian_schools_in_Aleppo; zuletzt abgerufen am 3. Juni 2020) in der mündlichen Verhandlung auch im Übrigen nachvollziehbar geschildert hat, sieht das Gericht hier keinen Anlass zu weiterer Aufklärung. [...]