VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 28.05.2020 - A 8 K 8886/17 - asyl.net: M28499
https://www.asyl.net/rsdb/M28499
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für jungen Hazara wegen drohender Verfolgung durch Kutschi-Nomaden oder Taliban:

1. Subsidiärer Schutz für einen minderjährig eingereisten jungen Afghanen, Angehöriger der ethnischen Minderheit der Hazara, wegen Vorverfolgung im Konflikt zwischen paschtunischen Kutschi-Nomaden und Hazara in der Provinz Ghazni, obwohl er dies erst im Klageverfahren ausführlich vorgetragen hat.

2. Die Verfolgung knüpft nicht an asylerhebliche Gründe an, daher war die Flüchtlingseigenschaft abzulehnen.

3. Es ist nicht möglich, in andere Landesteile weiterzureisen. Es besteht keine interne Fluchtalternative in Kabul, wenn dort keine Familienangehörigen leben und der Betroffene sich dort allein nicht zurechtfinden könnte, weil er bisher nur auf dem Land und in Deutschland gelebt hat und noch sehr jung ist. Dies gilt insbesondere wegen der Verschlechterung der humanitären Lage nach Ausbruch der Covid-19-Pandemie.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Hazara, Paschtunen, Kutschi, Kutschi-Nomaden, Ghazni, Kabul, interne Fluchtalternative, subsidiärer Schutz, Abschiebungsverbot, Corona-Virus, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 4, AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Die Angaben des Klägers sind mit den zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln des Gerichts bezüglich Übergriffen von Kutschi-Nomaden in der Provinz Wardak in Einklang zu bringen. Die Herkunftsregion des Klägers befindet sich in einem Zustand dauerhafter Instabilität. Das niederländische Außenministerium (Ministerie van Buitenlandse Zaken, BZ) hält in seinem Herkunftsländerbericht zu Afghanistan vom November 2016 (Berichtszeitraum August 2014 bis Oktober 2016) fest, dass viele Kutschis von Viehzucht leben würden, aber dass ihr Zugang zu Weideland durch Konflikt und Dürre verringert worden sei. Die Kutschis verbrächten den Winter im Süden und Osten Afghanistans und zögen im Mai und Juni nördlich in kühlere Gebiete ins zentral gelegene Hazaradschat. Auf dem Weg dorthin sei ihr erster Aufenthalt in den zentral gelegenen Provinzen Wardak, in den Distrikten Day Mirdad und Beshud, und in der Provinz Ghazni (Distrikt Jaghatu). Aufgrund des Konfliktes wegen Zugang zu Weideland zwischen Hazara und Kutschis in Zentralafghanistan kämen sie oft nicht weiter als in die Distrikte Day Mirdad, Beshud und Jaghatu. Seit.2007 habe sich der Konflikt in den Provinzen Wardak und Ghazni verstärkt und würde manchmal gewalttätig. Auch im Jahr 2015 habe der Konflikt zu gewaltsamen Auseinandersetzungen in der Provinz Wardak geführt. Neben bewaffneten Konfrontationen, in denen Personen beider Seiten verletzt worden seien, hätten Hazara trotz eines ausgehandelten Friedensabkommens eine Zahl von Kutschis entführt. Soweit bekannt sei, hätten die Behörden nichts getan, um eine langfristige Lösung des Konflikts zu finden. Ein Bericht des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UN High Commissioner for Refugees, UNHCR) zu Binnenvertreibung im Jahr 2015, der im April 2016 veröffentlicht wurde, beschreibt ebenfalls, dass die jährliche Migration von Kutschi-Normaden auf der Suche nach Weideland für ihre Tiere in den Provinzen Wardak und Ghazni zu wiederkehrender Gewalt zwischen Hazara und Kutschis führe. Trotz Bemühungen der Regierung, gegen die Gewalt vorzugehen, komme es aufgrund der Gewalttätigkeit weiterhin zu Toten und Verletzten auf beiden Seiten sowie zur Vertreibung von Hazara-Dorfbewohnern. Seit 2007 würden Spannungen oftmals in offene Gewalt umschlagen, da die Kutschis begonnen hätten, in einer zunehmend aggressiven und militarisierten Art und Weise ins Hazaradschat zu drängen (hierzu: ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Provinz Wardak, Distrikt Day Mirdad: Aktuelle Sicherheitslage; Einfluss der Taliban oder anderer Aufständischer; Konflikte mit Kutschi-Nomaden im Jahr 2015, Stand: 21.09.2017).

Stichhaltige Gründe, die gegen eine ernsthafte Gefahr im Fall einer Rückkehr des Klägers sprechen könnten, sind nicht ersichtlich. Die politischen Verhältnisse sind seitdem in Afghanistan unverändert geblieben, was eine Wiederholung indiziert. Beachtlich ist, dass der Kläger der Volksgruppe der schiitischen Hazara angehört und diese Volksgruppe häufig diskriminiert wird oder Ziel von Anschlägen ist (s.o.). Es kann vor diesem Hintergrund nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger bei einer unterstellten Rückkehr nicht erneut Opfer eines Übergriffs der Kutschi-Nomaden oder der Taliban wird.

Dem Kläger droht somit ein ernsthafter Schaden im Sinne einer unmenschlichen Behandlung. Die Bedrohung geht von den Kutschi-Nomaden als nichtstaatlichem Akteur aus (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Der afghanische Staat wie auch die sonstigen, in § 3d AsylG genannten Schutzakteure sind nicht in der Lage, den Kläger vor weiterer Verfolgung zu schützen. Nach § 3d Abs. 2 Satz 2 AsylG ist ein Schutz vor Verfolgung generell dann gewährleistet, wenn die Schutzakteure geeignete Schritte einleiten, um Verfolgung zu verhindern, u.a. etwa durch Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen. Dies ist in Afghanistan allerdings nicht gesichert. Die Regierung ist häufig nicht in der Lage, ihre Schutzverantwortung effektiv wahrzunehmen (s.o.). Der Kläger konnte somit keinen wirksamen Schutz von staatlichen Sicherheitskräften oder internationalen Organisationen erhalten und wird dies auch im Falle einer Rückkehr nicht können (UNHCR, Leitfaden zur Prüfung einer innerstaatlichen Fluchtalternative, November 2018; Frederike Stahlmann, Gutachten vom 28.03.2018; EASO, Country Guidance Afghanistan, Juni 2019).

3. Für den Fall seiner Rückkehr steht dem Kläger auch kein interner Schutz in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif nach § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG zur Verfügung. [...]

Eine Rückkehr nach Herat oder Mazar-e Sharif scheidet für den Kläger aus. Es ist nicht sichergestellt, dass der er sicher und legal in diese Landesteile reisen kann. Kabul ist der übliche Zielort von Rückführungen nach Afghanistan (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -, juris Rn. 105). Der Kläger kann von dort nur mittels Inlandsflug sicher und legal nach Mazar-e Sharif und Herat reisen. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ist aber nicht nur der Inlandsflugverkehr in Afghanistan grundsätzlich ausgesetzt und es gelten auch landesweite Reisebeschränkungen (BAMF, Briefing Notes vom 18.05.2020).

Ebenfalls offenbleiben kann, ob der Kläger in Kabul vor einer Verfolgung durch Kutschi-Nomaden sicher wäre, da von ihm vernünftigerweise nicht erwartet werden kann, sich dort niederzulassen.

(1) Die Niederlassung kann vernünftigerweise erwartet werden, Wenn sie zumutbar ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 01.02.2007 -1 C 24.06 juris Rn. 12). Hierbei sind alle Umstände des Einzelfalls umfassend zu prüfen. Hierzu gehören objektive Gesichtspunkte, darunter insbesondere die wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse einschließlich der Gesundheitsversorgung, und subjektive Umstände, wie etwa Alter, Geschlecht, familiärer und biographischer Hintergrund, Gesundheitszustand, finanzielle Situation bezogen auf Vermögen und Erwerbsmöglichkeiten sowie Leistungen aus Hilfsangeboten für Rückkehrer, Fähigkeiten/Ausbildung/Berufserfahrung, das Vorhandensein von tragfähigen Beziehungen/Netzwerken am Ort des internen Schutzes, Kenntnisse zumindest einer der am Ort des internen Schutzes gesprochenen Sprachen, sowie ggf. die Volkszugehörigkeit (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.10.2017 - A 11 S 512/17 -,juris Rn. 80). Zu berücksichtigen ist auch, ob am Ort des internen Schutzes die Existenzsicherung des Betroffenen gewährleistet ist. Eine Existenzsicherung muss dabei zumindest soweit. gegeben sein, dass der Betroffene auf Basis der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse am Ort des internen Schutzes eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, also wenigstens das Existenzminimum gewährleistet ist. Vor dem Beginn der weltweiten COVID-19-Pandemie wurde grundsätzlich davon ausgegangen, dass im Falle leistungsfähiger erwachsener Männer ohne Unterhaltsverpflichtungen und ohne bestehendes familiäres oder soziales Netzwerk bei der Rückkehr aus dem westlichen Ausland in Kabul die Sicherung eines Existenzminimums möglich ist. Davon kann aber nur dann ausgegangen werden, sofern nicht besondere, individuell erschwerende Umstände festgestellt werden können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 26.06.2019 - A 11 S 2108/18 -; Urteil vom 12.10.2018 - A 11 S 316/17 -; Urteil vom 11.04.2018 - A 11 S 924/17 -; jeweils juris).

Nach Beginn der weltweiten COVID-19-Pandemie ergibt sich zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung folgendes Bild: Mitte Mai 2020 gab es in ganz Afghanistan über 5.000 bestätigte Fälle und 132 im Zusammenhang mit der Erkrankung Verstorbene. Es ist von einer erheblichen Dunkelziffer auszugehen. Kabul weist die höchste Zahl an bestätigten Erkrankungen auf, gefolgt von Herat. Sowohl in Kabul als auch in Herat bestehen erhebliche Einschränkungen des öffentlichen Lebens ("lockdown"), weil Vorgaben zu sozialer Isolation durch die Bevölkerung nur unzureichend eingehalten werden. Es gelten Ausgangsbeschränkungen, die. in den Provinzen unterschiedlich strikt ausgestaltet sind. Die Beschränkungen in Kabul und in Herat gelten als streng. Moscheen sind geschlossen, ebenso Sport-, Bildungs- und kulturelle Einrichtungen. Reisen zwischen Städten und nicht notwendige Unternehmungen sind untersagt. Viele der Beschränkungen sind gegenwärtig bis 24. Mai 2020 angeordnet. Teilweise wurden sie indes bereits gelockert. Die Ausgangsbeschränkungen haben nach Angaben der Regierung bislang zu einer hohen Zahl an zusätzlichen Arbeitslosen geführt. Der arme Teil der Bevölkerung hat bereits bisher großenteils Geld durch informelle Gelegenheitsarbeiten verdient, so dass offen ist, inwiefern Angaben zu Arbeitslosenzahlen verlässlich sind. Der arme Teil der Bevölkerung wird durch die Beschränkungen jedenfalls besonders hart getroffen. Diese Tätigkeiten hängen wegen ihrer Natur als Tagelöhnerbeschäftigungen davon ab, dass sich die Betroffenen frei bewegen können, um solche Aufträge zu erhalten und durchführen zu können. Auch bestehen keinerlei längerfristige Bindungen, sondern häufig nur kurzfristige Erwerbsmöglichkeiten, die jederzeit wegfallen können. Sofern diese Arbeiten nicht in den von den Beschränkungen ausgenommenen Bereichen, zu denen u.a. der Lebensmittelsektor gehört, stattfinden, sind sie den beschriebenen massiven Einschränkungen ausgesetzt.

(2) Bei dem Kläger sind. individuell erschwerenden Umstände festzustellen, wonach ihm eine Niederlassung in Kabul nicht zugemutet bzw. von ihm nicht vernünftiger weise erwartet werden kann. Der Kläger ist 21 Jahre alt, als Minderjähriger aus Afghanistan geflohen und hat einen Großteil seines Lebens auf dem Land und in Deutschland verbracht. In einer größeren Stadt hat er in Afghanistan nie gelebt. Einen Beruf hat er bislang nicht ausgeübt. Die Landessprache Paschtu beherrscht er kaum. Dar über hinaus hätte der Kläger in Kabul keinen Zugang zu einem Unterstützungsnetzwerk durch Mitglieder seiner Familie oder andere soziale Beziehungen. Eine Familie hat der Kläger in Afghanistan nicht mehr. Darüber hinaus ist er als schiitischer Hazara Teil einer Minderheit, die in Afghanistan zahlreichen Diskriminierungen - auch bei der Arbeits- und Wohnungssuche - ausgesetzt ist. Es muss berücksichtigt werden, dass sich in Kabul gewaltsame Anschläge und Übergriffe regelmäßig gegen die Minderheit der schiitischen Hazara richten (vgl. BAMF, Briefing Notes vom 18.05.2020) und nachdem der Kläger in Afghanistan bereits einen ernsten Schaden erlitten hat, besteht für den Kläger in Kabul die Gefahr einer weiteren Traumatisierung. Die genannten persönlichen Umstände würden die Arbeitssuche für den Kläger, auf dem zu Grunde liegenden Arbeitsmarkt in Kabul aussichtslos machen. Selbst wenn die genannten - ggf. temporären - Einschränkungen auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der COVID-19-Pandemie unberücksichtigt bleiben, wird es dem Kläger kaum möglich sein, seine Existenz mit einer Tätigkeit als Tagelöhner zu sichern. Aber selbst wenn ihm unter diesen Bedingungen gelänge sein Existenzminimum gerade so zu sichern, reicht dies aus der Sicht des Gerichts nicht aus, dass ihm in Kabul die Niederlassung zugemutet werden kann. [...]