VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 23.03.2020 - 12 L 1094/18.A - asyl.net: M28501
https://www.asyl.net/rsdb/M28501
Leitsatz:

Keine Zustellung des Bescheids bei Übergabe an nicht leitende Angestellte in Gemeinschaftsunterkunft:

"1. Ein Bescheid gilt nur dann als zugestellt, wenn er dem Adressaten oder aber - bei Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft - dem Leiter oder der Leiterin der Einrichtung übergeben wird, nicht aber, wenn er einem oder einer Angestellten in nicht leitender Funktion ausgehändigt wird. In diesem Fall gilt er erst dann als zugestellt, wenn er dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist.

2. Der Asylantrag eines Yeziden aus dem Irak, der geltend macht, er sei von Muslimen gedrängt worden, zum Islam zu konvertieren, kann nicht als offensichtlich unbegründet abgelehnt werden, offene Fragen nach dem Verfolgungsschicksal und internem Schutz müssen im Hauptsacheverfahren geklärt werden.

3. Möglicherweise kommt in Anbetracht der Corona-Pandemie und der Tatsache, dass der Antragsteller einen großen Teil seines Besitzes schon vor der Flucht verkaufen musste, auch ein nationales Abschiebungsverbot in Betracht."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Irak, Yeziden, offensichtlich unbegründet, Zustellung, Gemeinschaftsunterkunft, Aufnahmeeinrichtung, Zulässigkeit, Fristversäumnis, Klagefrist, Frist, Ersatzzustellung, Zustellungsmangel,
Normen: AsylG § 10 Abs. 4, AsylG § 10 Abs. 5, ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 3, VwZG § 3 Abs. 2 S. 1, AsylG § 31 Abs. 1 S. 3,
Auszüge:

[...]

Ausweislich der erst am 17. Dezember 2019 vorgelegten Zustellungsurkunde hat der die Zustellung vornehmende Postbedienstete den Antragsteller in der Gemeinschaftseinrichtung, in der dieser zum Zeitpunkt der Zustellung tatsächlich wohnte, nicht angetroffen. Dann kann gemäß § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO das Schriftstück dem Leiter oder einem dazu ermächtigten Vertreter zugestellt werden. Dies ist jedoch nicht geschehen.

Ausweislich der Auskunft der Zentralen Ausländerbehörde des Landes Brandenburg vom 6. November 2019 waren die Objektleiter des Heimbetreibers die Herren ... und .... Selbst wenn man diese Herren als Leiter der Einrichtung und nicht nur als Leiter einer Außenstelle ansehen wollte, wurde der streitbefangene Bescheid nicht an sie, sondern an Frau ... ausgehändigt. Diese war laut Auskunft des Referenten des Objektleiters des Heimbetreibers vom 7. November 2019 für das Auszahlen von Geldleistungen an die Bewohner zuständig und hatte keine leitende Funktion inne. Eine ausdrückliche Ermächtigung zur Entgegennahme von zuzustellenden Schriftstücken durch Frau ... legte der Leiter der Einrichtung nicht vor. Eine solche kann auch die Antragsgegnerin nicht beibringen. Wenn sich die Antragsgegnerin aber auf eine Ermächtigung von Frau ... zu Entgegennahme von mit Zustellungsurkunde zuzustellenden Schriftstücken beruft, obliegt es im Zweifel der Antragsgegnerin, diese Ermächtigung nachzuweisen (vgl. B/L/A/H, Zivilprozessordnung Kommentar, 77. Auflage 2019, Anmerkung 25 zu § 178 ZPO). Eine solche Beauftragung oder entsprechende Bevollmächtigung von Frau ... zur Entgegennahme von zuzustellenden Schriftstücken hat die Antragsgegnerin nicht nachgewiesen.

Die Hinweise der Antragsgegnerin auf § 10 Abs. 4 AsylG gehen insoweit fehl. § 10 Abs. 4 AsylG stellt eine Sonderregelung für Asylantragsteller dar, die in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht sind und keinen Bevollmächtigten oder Empfangsberechtigten benannt und auch bereits den Asylantrag bei der Außenstelle nach § 23 Abs. 1 AsylG gestellt haben. Sie eröffnet eine zusätzliche andere Zustellungsmöglichkeit für das Bundesamt, die nur während der Phase des Asylverfahrens Platz greift, während der ein Asylantragsteller der Verpflichtung unterliegt, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Bei dieser Zustellung kann sich das Bundesamt der in der Einrichtung tätigen oder handelnden Personen bei der Zustellung eines Bescheides als Gehilfen bedienen (vgl. VG Potsdam, Beschluss vom 19. Februar 2020 - VG 12 L 256/19.A - S. 12 des Beschlussabdrucks und Marx AsylG Kommentar, 10. Aufl. 2019, Anmerkung 66 zu § 10 AsylG). Diesen Weg hat die Antragsgegnerin hier gerade nicht beschritten, sondern für die Zustellung des Bescheides vom 30. Oktober 2018 der Post einen Zustellungsauftrag erteilt. In einem solchen Fall gelten die Vorschriften der ZPO, insbesondere bleiben die Vorschriften über die Ersatzzustellung unberührt, § 10 Abs. 5 AsylG.

Am 16. November 2018 ist somit eine wirksame Zustellung des Bescheides vom 30. Oktober 2018 an den Antragsteller nicht erfolgt.

Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist es unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, gilt es in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist, § 8 S. 1 VwZG. Nach den nicht widerlegten Angaben des Antragstellers hat dieser den angegriffenen Bescheid zwei bis drei Tage vor der Klagerhebung und dem Stellen des Aussetzungsantrags erhalten. Die Klageerhebung und das Stellen des Aussetzungsantrages sind somit - jedenfalls mit Verbindlichkeit für das Aussetzungsverfahren - rechtzeitig innerhalb der Wochenfristen der §§ 36 Abs. 3 S. 1 und 74 Abs. 1 2. Alt. AsylG erfolgt. [...]