OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Urteil vom 12.02.2020 - 1 LB 276/19 - asyl.net: M28504
https://www.asyl.net/rsdb/M28504
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für Hazara aus Afghanistan:

"1. Ein elektronisches Dokument ist nur dann über einen sicheren Übermittlungsweg i.S.d. § 55a Abs. 4 Nr. 3 VwGO (beBPo) eingereicht, wenn der sogenannte Vertrauenswürdige Herkunftsnachweis (VHN) funktionsfähig eingebunden war.

2. Eine Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand ist zu gewähren, wenn ein gerichtlicher Hinweis, dass ein elektronischer Schriftsatz ohne den erforderlichen vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis eingereicht worden ist, in angemessener Zeit unterblieben ist und die Fristversäumung darauf beruht.

3. Auch in Anbetracht der schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan erfüllen leistungsfähige, alleinstehende erwachsene Männer, selbst wenn sie über kein familiäres oder soziales Netzwerk verfügen, im Falle einer Rückkehr aus der Bundesrepublik Deutschland die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK grundsätzlich nicht."

(Amtliche Leitsätze; Entscheidung mit umfangreichen Ausführungen zum Maßstab des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK sowie der Situation in Afghanistan)

Schlagwörter: Afghanistan, Berufungszulassungsantrag, elektronischer Rechtsverkehr, Fristversäumnis, Rechtsmittelfrist, sicherer Übermittlungsweg, vertrauenswürdiger Herkunftsnachweis, digitale Signatur, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, Existenzgrundlage, Existenzminimum, Hazara, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, VwGO § 55a Abs. 4 Nr. 3, VwGO § 60,
Auszüge:

[...]

II. Die Berufung ist jedoch unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Bezug auf Afghanistan festzustellen. [...]

2. Nach der aktuellen Erkenntnislage sind die Lebensbedingungen und die Versorgungslage in Afghanistan aufgrund der fortwährenden Handlungen von Konfliktparteien sehr problematisch (a). Auch in Anbetracht dieser schwierigen Lage geht der Senat mit der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung jedoch davon aus, dass für leistungsfähige, alleinstehende erwachsene Männer auch ohne familiäres oder soziales Netzwerk im Falle einer Rückkehr aus dem westlichen Ausland nach Afghanistan die hohen Anforderungen eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK grundsätzlich nicht erfüllt sind (b). Vor dem Hintergrund, dass sich die humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert haben, ist jedoch eine sorgfältige Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls erforderlich, die spezifische individuelle Einschränkungen des jeweils Betroffenen berücksichtigt (c). Aus diesem Grund hat der Kläger auch unter Zugrundlegung des strengen Maßstabs nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes (d). [...]

b) Von dieser schwierigen wirtschaftlichen und humanitären Situation sind nicht alle sozialen Gruppen gleichermaßen betroffen.

Besondere Schwierigkeiten bestehen insbesondere für Familien mit minderjährigen Kindern, bei denen die erwerbstätigen Familienmitglieder nicht nur den eigenen Bedarf, sondern zusätzlich den Bedarf der nicht erwerbstätigen Familienmitglieder erwirtschaften müssen. Besonderen Schwierigkeiten sind auch die Personengruppen ausgesetzt, deren Zugang zum Arbeitsmarkt eingeschränkt ist. Dies gilt für Frauen, die bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit erheblichen Hindernissen ausgesetzt sind. Es gibt weiterhin gesellschaftliche Vorbehalte gegen eine Erwerbstätigkeit von Frauen; bei der Anstellung werden Männer bevorzugt. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen in Afghanistan liegt daher trotz stetiger Zunahme nur bei ca. 27 Prozent (BFA, Länderinformationsblatt Afghanistan, Stand: 04.06.2019, S. 302 f.). Ebenfalls eingeschränkt ist der Zugang zum Arbeitsmarkt für Personen mit erheblichen Erkrankungen. Diese können körperlich stark belastende Tätigkeiten, die Tagelöhner und Selbststände nicht selten erbringen müssen, nicht oder nur eingeschränkt ausüben. Für diese Gruppen besteht daher nach einhelliger obergerichtlicher Rechtsprechung regelmäßig ein Abschiebungsverbot.

Im Gegensatz dazu kann den vorliegenden Erkenntnismitteln nicht entnommen werden, dass es leistungsfähigen Rückkehrern ohne Unterhaltsverpflichtung gegenüber Dritten überwiegend nicht möglich ist, in Afghanistan eine Erwerbstätigkeit und eine Unterkunft zu finden und zwingend erforderliche medizinische Behandlungen in Anspruch zu nehmen. Männern zwischen 18 und 40 Jahren, die zumindest eine der beiden Landessprachen beherrschen sowie gesund und alleinstehend sind, wird es daher mit überwiegender Wahrscheinlichkeit möglich sein, in Kabul als voraussichtlichen Zielort einer Abschiebung ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, auch wenn sie über keine unterstützungsbereite familiäre Struktur in Afghanistan verfügen (im Ergebnis ebenso OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; VGH Bayern, Urt. v. 08.11.2018 - 13a B 17.31960, juris Rn. 34; VGH B-W, Urt. v. 29.10.2019 - A 11 S 1203/19, juris Rn. 102; OVG Nds., Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18, juris Rn. 97; VGH Hessen, Urt. v. 23.08.2019 - 7 A 2750/15.A, juris Rn. 149 f.; OVG Sachsen, Urt. v. 18.03.2019 - 1 A 198/18.A, juris Rn. 78; OVG R-P, Urt. v. 22.01.2020 - 13 A 11356/19, juris Rn. 68). [...]

c) Der Umstand, dass sich die humanitären Lebensbedingungen in Afghanistan in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert haben, hat negative Auswirkungen auf die Lebensbedingungen von Rückkehrern nach Afghanistan. Zwar ist trotzdem weiterhin davon auszugehen, dass Männer zwischen 18 und 40 Jahren, die über keine unterstützungsbereite familiäre Struktur in Afghanistan verfügen, wenigstens eine der beiden Landessprachen beherrschen sowie gesund und alleinstehend sind, nach einer Rückkehr nach Afghanistan grundsätzlich (wenigstens) ein Leben am Rande des Existenzminimums führen können. Allerdings können besondere persönliche Umstände hinzutreten, die die Fähigkeit zur (erneuten) Eingliederung in die afghanische Gesellschaft derart beeinträchtigen, dass unter Berücksichtigung der verschlechterten humanitären Lebensbedingungen eine andere Bewertung zu treffen ist (vgl. VGH Hessen, Urt. v. 27.09.2019 - 7 A 1637/14.A, juris Rn. 147 f.).

Ein solcher Ausnahmefall setzt voraus, dass der Betroffene eine spezifische individuelle Einschränkung aufweist und diese Einschränkung die Fähigkeiten des Betroffenen derart beeinträchtigt, dass es ihm unmöglich ist, in Afghanistan wenigstens ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, und demnach alsbald nach Rückkehr nach Afghanistan erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen zu erwarten sind. Eine spezifische individuelle Einschränkung ist jeder für die Gewährleistung einer hinreichenden Lebensgrundlage nachteilige Umstand, den der ganz überwiegende Anteil der Gruppe jungen, gesunden und alleinstehenden Männer ohne unterstützungsbereite familiäre Struktur nicht aufweist. Die Entscheidungserheblichkeit einer spezifischen individuellen Einschränkung auf die Fähigkeit zur Gewährleistung einer hinreichenden Lebensgrundlage kann sich bereits aus einem einzelnen nachteiligen Umstand oder aus einem Zusammenwirken verschiedener nachteiliger Umstände ergeben.

Werden solche besonderen Umstände geltend gemacht, bedarf es einer sorgfältigen Betrachtung der konkreten Umstände des Einzelfalls, um eine Prognose der individuellen Fähigkeit, in Afghanistan (wenigstens) ein Leben am Rande des Existenzminimums zu führen, treffen zu können. Sie setzt grundsätzlich eine vorherige informatorische Anhörung des Klägers im gerichtlichen Verfahren voraus, da nur auf diese Weise die für das Persönlichkeitsbild erforderlichen Erkenntnisse gewonnen werden können. Die Annahme, dass die spezifische individuelle Einschränkung die individuelle Fähigkeit entscheidungserheblich verschlechtert, bedarf einer Abwägung aller Faktoren unter Berücksichtigung der spezifischen Umstände des Einzelfalls (vgl. VGH Hessen, Urt. v. 27.09.2019 - 7 A 1637/14.A, juris Rn. 185).

aa) Der nachteilige Umstand, dass eine Person bislang nie oder überwiegend nicht in Afghanistan gelebt hat, stellt allerdings für sich genommen noch keine ausreichende spezifische individuelle Einschränkung dar (ebenso OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; VGH Bayern, Urt. v. 08.11.2018 - 13a B 17.31960, juris Rn. 34; OVG Nds., Urt. v. 29.01.2019 - 9 LB 93/18, juris Rn. 129). [...]

bb) Auch die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara reicht allein nicht dafür aus, um vom Vorliegen eines Abschiebungsverbotes auszugehen. Allerdings ist die Volksgruppe der Hazara erheblichen Diskriminierungen in Afghanistan ausgesetzt. [...]

Allein die Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara schließt – auch unter Berücksichtigung der allgemeinen nachteiligen Umstände für die Gruppe der jungen, gesunden und alleinstehenden Männer ohne unterstützungsbereite familiäre Struktur – trotzdem nicht aus, dass Asylantragsteller nach einer Rückkehr eine Arbeitsstelle finden, die ihnen ein Leben am Rande des Existenzminimums ermöglicht (vgl. OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3741/18.A, juris Rn. 277; VGH B-W, Urt. v. 11.04.2018 - A 11 S 924/17, juris Leitsatz). Trotz der großen Zahl von 1 bis 1,5 Millionen Hazara in Kabul gibt es keine Berichte, dass Hazara typischerweise keine Arbeit erhalten würden (vgl. VGH B-W, Urt. v. 17.01.2018 - A 11 S 241/17, juris Rn. 494). Allerdings muss die Volkszugehörigkeit trotzdem berücksichtigt werden; denn sie beeinträchtigt die Möglichkeit eines Asylantragstellers, sich nach einer angenommenen Rückkehr nach Afghanistan eine hinreichende Lebensgrundlage zu sichern. Bei Mitglieder dieser Volksgruppe ist daher mit besonderer Sorgfalt der Frage nachzugehen, ob die Volkszugehörigkeit im Zusammenwirken mit weiteren nachteiligen Faktoren eine entscheidungserhebliche spezifische individuelle Einschränkung begründet (vgl. OVG Sachsen, Urt. v. 18.03.2019 - 1 A 198/18.A, juris Rn. 103). [...]

Für diese Annahme wären einzelne oder einige der vorliegenden spezifischen nachteiligen Umstände nicht ausreichend gewesen. In der Gesamtschau aller spezifischen einzelfallbezogenen Umstände und der allgemeinen nachteiligen Umstände für die Gruppe der jungen, gesunden und alleinstehenden Männer ohne unterstützungsbereite familiäre Struktur ist aber die Feststellung eines Abschiebungsverbots geboten. Im Zusammenwirken dieser Umstände wird die Fähigkeit des Klägers, im aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Lage in Afghanistan harten Konkurrenzkampf um Arbeitsstellen zu bestehen, erheblich beeinträchtigt. Es besteht daher die Gefahr, dass ihm die finanziellen Mittel fehlen werden, um eine Unterkunft und ausreichende Nahrungsmittel zu bezahlen. Die zu erwartende Unterschreitung des Existenzminimums ist dabei so groß, dass ein beachtliches Risiko für eine erhebliche Verschlechterung der Gesundheit des Klägers besteht. [...]