VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 05.06.2020 - 12 A 1293/18 - asyl.net: M28506
https://www.asyl.net/rsdb/M28506
Leitsatz:

Voraussetzung für die "Unverzüglichkeit" der Asylantragstellung beim Familienasyl:

1. Der unverzüglich zu stellende "Asylantrag" im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG ist nicht (nur) der förmliche, beim Bundesamt zu stellende Asylantrag im Sinne von § 14 AsylG, sondern jedes Nachsuchen um Schutz im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG.

2. Wann das Bundesamt von dem Asylgesuch Kenntnis erlangt, ist unerheblich.

3. Selbst wenn man den Zeitpunkt des Asylantrags nach § 14 AsylG für maßgeblich erachten würde, liegt eine die Unverzüglichkeit ausschließende schuldhafte Verzögerung nicht vor, solange ein minderjähriger Asylsuchender nicht handlungsfähig ist und auch keinen gesetzlichen Vertreter hat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienasyl, Familienflüchtlingsschutz, Familienschutz, minderjährig, Asylgesuch, förmlicher Asylantrag, Asylantrag, gesetzlicher Vertreter, Vormundschaft, Unverzüglichkeit,
Normen: AsylG § 13 Abs. 1, AsylG § 14, AsylG § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Der erst nach der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für seinen Bruder eingereiste Kläger hat seinen Asylantrag gemäß § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 AsylG nach der Einreise auch unverzüglich, d.h. ohne schuldhaftes Zögern im Sinne von § 121 BGB, gestellt.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts muss ein unverzüglicher Asylantrag zwar nicht sofort, aber – unter Berücksichtigung der persönlichen Lebensumstände – alsbald gestellt werden. Dabei ist einerseits eine angemessene Überlegungsfrist zuzubilligen, andererseits aber auch das von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG als Ordnungsvorschrift verfolgte öffentliche Interesse, möglichst rasch Rechtsklarheit zu schaffen, zur Geltung zu bringen. Im Hinblick auf die im gesamten Asylverfahrensrecht verkürzten Fristen hält das Bundesverwaltungsgericht eine Frist von zwei Wochen in der Regel für angemessen und ausreichend. Ein späterer Antrag ist folglich regelmäßig nur dann rechtzeitig, wenn sich aufgrund besonderer Umstände im Einzelfall ergibt, dass der Antrag nicht früher gestellt werden konnte. Von einem gewissenhaften Asylsuchenden, dessen Aufenthalt im Bundesgebiet vorläufig und nur zur Durchführung seines Asylverfahrens gestattet ist, ist zu erwarten, dass er sich, ggf. durch Einholung von Rechtsrat, Klarheit verschafft und den erforderlichen Antrag sodann stellt (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.5.1997 – 9 C 35.96 –, juris Rn. 10).

Das Gericht ist dabei der Auffassung, dass der unverzüglich zu stellende "Asylantrag" im Sinne des § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AsylG nicht (nur) der förmliche, beim Bundesamt zu stellende Asylantrag im Sinne von § 14 AsylG ist, sondern jeder Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG (vgl. Nds. OVG, B. v. 1.7.2019 – 9 LA 87/19 –, juris Rn. 11; Bay VGH, B. v. 17.1.2019 – 20 ZB 18.32762 –, juris Rn. 10; und Urt. v. 16.10.2018 – 21 B 18.31010 –, juris Rn. 18; VG Aachen, Urt. v. 5.3.2020 – 5 K 2046/18.A –, juris Rn. 22; VG Hannover, Urt. v. 27.5.2019 – 3 A 1313/19 –, juris Rn. 12; VG Hamburg, Urt. v. 14.2.2019 – 8 A 1814/18 –, juris Rn. 55 ff. m.w.N.; VG Schwerin, Urt. v. 14.1.2019 – 3 A 2151/18 SN –, juris Rn. 28 ff.; für § 26 Abs. 2 AsylG auch VG Köln, Urt. v. 10.4.2018 – 14 K 4735/15.A –, juris Rn. 18 ff.).

Ein Asylantrag im Sinne von § 13 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn sich dem schriftlich, mündlich oder auf andere Weise gegenüber einer staatlichen Stelle geäußerten Willen des Ausländers entnehmen lässt, dass er im Bundesgebiet Schutz vor politischer Verfolgung sucht oder dass er Schutz vor Abschiebung oder einer sonstigen Rückführung in einen Staat begehrt, in dem ihm eine Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG oder ein ernsthafter Schaden i. S. d. § 4 Abs. 1 AsylG droht.

Einen solchen Asylantrag im Sinne von § 13 AsylG hat der Kläger bei der Bundespolizeidirektion am Flughafen D. bereits am Tag seiner Einreise und damit auf jeden Fall unverzüglich gestellt.

Selbst wenn man jedoch der Auffassung wäre, dass es auf die förmliche Asylantragsstellung gemäß § 14 AsylG beim Bundesamt ankomme, also hier auf den Zeitpunkt der nach § 14 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 AsylG am 1. Dezember 2017 erfolgten Antragsstellung, kann dem Kläger eine schuldhafte Verzögerung der Antragsstellung nicht entgegengehalten werden.

Auch wenn der Kläger seinen Asylantrag nicht innerhalb von zwei Wochen nach seiner Einreise gestellt hat, ist das Gericht der Auffassung, dass der Kläger seinen Asylantrag aufgrund der Umstände seines Einzelfalls nicht früher stellen konnte.

Ein unmittelbar nach der Einreise von ihm persönlich gestellter förmlicher Asylantrag wäre aufgrund seiner Minderjährigkeit nach § 12 Abs. 1 AsylG nämlich mangels Handlungsfähigkeit unwirksam gewesen, hätte mithin ein Asylverfahren beim Bundesamt nicht in Gang setzen können. Der Kläger hätte auch – bis zur Bestellung seines Vormunds – bei der Stellung des Asylantrags nicht wirksam vertreten werden können. Gegenüber einem Handlungsunfähigen darf die Behörde ohne Einschaltung des gesetzlichen Vertreters auch kein Verwaltungsverfahren durchführen (BVerwG, Urt. v. 31.7.1984 – 9 C 156.83 –, juris Rn. 12). Aus der Tatsache, dass ein Handlungsunfähiger Handlungen nicht vornimmt, darf die Behörde in Anbetracht von dessen Handlungsunfähigkeit auch keine negativen rechtlichen Konsequenzen ziehen. Es besteht im Übrigen für das Bundesamt auch kein schützenswertes Interesse daran, dass möglichst bald nach der Einreise ein unwirksamer Asylantrag gestellt wird. [...]