VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Urteil vom 04.06.2020 - 12 A 6683/17 - asyl.net: M28514
https://www.asyl.net/rsdb/M28514
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen atheistischen Afghanen:

1. Dem Kläger droht in Afghanistan aufgrund seiner Abwendung vom islamischen Glauben mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung, auch wenn er sich keiner anderen Religion zugewandt hat, sondern einer atheistischen Weltanschauung. 

2. Eine interne Fluchtalternative besteht nicht. Es ist davon auszugehen, dass im gesamten Land kein dauerhafter Schutz für atheistische Afghanen besteht, da es unmöglich ist, die eigene Einstellung dauerhaft zu verbergen. Das gilt auch für größere Städte. 

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Apostasie, Islam, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Die Ausführungen des Klägers machen zur Überzeugung des Einzelrichters deutlich, dass er sich unumkehrbar und identitätsprägend vom islamischen Glauben abgewandt hat. Er hat überzeugend und nachvollziehbar vorgetragen, dass er aus innerer Überzeugung heraus eine atheistische Weltanschauung angenommen hat. Deutlich geworden ist in der mündlichen Verhandlung, dass dies der inneren Überzeugung des Klägers entspricht, er sich damit detailliert auseinandergesetzt hat und diese Position auch in Diskussionen, etwa mit Arbeitskollegen, vertritt. [...]

Dem Kläger würde wegen seiner Abkehr vom Glauben in seinem Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohen.

Laut der afghanischen Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Nach offiziellen Schätzungen sind 80 % der Bevölkerung sunnitische und 19 % schiitische Muslime, einschließlich Ismailiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha'i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1 % der Bevölkerung aus. Die Religionsfreiheit ist zwar in der afghanischen Verfassung verankert (Art. 2). Danach steht es den Angehörigen anderer Religionen frei, diese innerhalb der "gesetzlichen Grenzen" zu praktizieren. Weder im Strafgesetzbuch aus dem Jahr 1976 noch in der afghanischen Verfassung werden Apostasie, Blasphemie oder Konvertierung ausdrücklich erwähnt. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträge und Konventionen wie auch die nationalen Gesetze sind jedoch allesamt im Lichte des generellen Scharia-Vorbehalts (Art. 3 der Verfassung) zu verstehen. Die Glaubensfreiheit, die auch die freie Religionswahl beinhaltet, gilt daher de facto in Afghanistan nur eingeschränkt. Die Abkehr vom Islam wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. September 2019, S. 11). Staatlich sanktionierte religiöse Führer sowie das Justizsystem seien dazu ermächtigt, islamische Prinzipien und das Scharia-Recht (gemäß Hanafi-Rechtslehre) auszulegen. Dies führe zuweilen zu willkürlichen und missbräuchlichen Auslegungen und zur Verhängung schwerer Strafen, darunter der Todesstrafe (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Situation von 1) vom Islam abgefallenen Personen (Apostaten), 2) christlichen KonvertitInnen, 3) Personen, die Kritik am Islam äußern, 4) Personen, die sich nicht an die Regeln des Islam halten und 5) Rückkehrern aus Europa, 1. Juni 2017).

Auch laut Bericht des European Asylum Support Offices - EASO - vom Dezember 2017 wird die Konvertierung vom Islam zu einer anderen Religion nach islamischem Recht als Apostasie betrachtet. Gleiches gilt für die Abwendung vom Islam durch die Hinwendung zum Atheismus. Gemäß der hanafitischen Rechtsschule ist Apostasie mit der Todesstrafe, Haft oder der Beschlagnahme von Eigentum zu ahnden. Einigen in Afghanistan praktizierten Auslegungen des islamischen Rechts zufolge steht auf die Konvertierung vom Islam die Todesstrafe. Männer sind zu enthaupten, Frauen zu lebenslanger Haft zu verurteilen, sofern sie nicht widerrufen oder ein Richter nach eigenem Ermessen eine geringere Strafe verhängt Es können auch andere Strafen verhängt werden, wie beispielsweise die Annullierung der Ehe, der Verlust des Sorgerechts für die eigenen Kinder, der Verlust geerbten Eigentums und die Aberkennung des Rechts, Eigentum an die eigenen linder zu vererben. Kinder von Apostaten gelten weiterhin als Muslime, sofern sie vor Erreichen der Volljährigkeit zum Islam zurückkehren. Andernfalls droht ihnen ebenfalls die Todesstrafe. Blasphemie wird mit dem Tod oder einer Haftstrafe von bis zu 20 Jahren geahndet. Ebenso wie Apostaten haben auch "Gotteslästerer" drei Tage Zeit, ihr Verhalten zu widerrufen. Andernfalls droht auch ihnen die Todesstrafe. Ein Gesetz aus dem Jahr 2004 verbietet Schriften und Veröffentlichungen, die den Islam oder andere Glaubensrichtungen beleidigen (EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Afghanistan - Gezielte Gewalt gegen Individuen aufgrund gesellschaftlicher und rechtlicher Normen, Dezember 2017, S. 24 ff. m.w.N.; vgl. auch ACCORD, 1. Juni 2017, m.w.N.).

Die Schweizerische Flüchtlingshilfe führt hierzu aus, dass Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion konvertierten oder die der Gotteslästerung bezichtigt würden, mit dem Tode oder bis zu 20 Jahren Gefängnis bestraft werden könnten. Dazu gehörten auch Atheist_innen und säkulare Personen. Da die afghanische Gesellschaft diesen Personen gegenüber äußerst feindlich gesinnt sei, müssten sie mit Übergriffen bis hin zur Ermordung seitens der Familie, der Gesellschaft und regierungsfeindlicher Gruppierungen rechnen. Die afghanische Regierung versuche, konvertierte Personen zur Widerrufung zu bewegen, und verweise sie bei Weigerung des Landes (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile, 12. September 2019, S. 14, abrufbar unter https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Publikationen/Herkunftslaenderberichte/Mittlerer_Osten_-_Zentralasien/Afghanistan/190912-afg-gefaehrdungsprofile-de.pdf

).Zwar sind dem Auswärtigen Amt in jüngerer Vergangenheit keine Fälle bekannt, in denen die Todesstrafe aufgrund von Apostasie verhängt wurde. Gefahr bis hin zur Ermordung drohe Konvertiten oft aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 2. September 2019, S. 11). EASO berichtet jedoch über mehrere Fälle aus den Jahren 2014 bis 2016, in denen Personen wegen Apostasie oder Blasphemie von staatlicher Seite verfolgt wurden. Zudem wurde über körperliche Angriffe, Inhaftnahmen, Festnahmen oder Verfolgungen wegen Blasphemie oder Apostasie berichtet. Auch wenn laut Bericht der afghanischen Regierung vor dem Ausschuss der Vereinten Nationen gegen Folter (UNCAT) wegen-Apostasie oder Blasphemie bislang keine Todesstrafen verhängt oder vollstreckt worden seien, seien Fälle bekannt geworden, in denen Personen wegen Apostasie angeklagt und ihnen mit der Todesstrafe gedroht worden sei. Die afghanischen Behörden hätten sich wegen kritischer Berichterstattung insbesondere gegen den Inhaber und Herausgeber einer Zeitung und gegen einen als Journalist tätigen Studenten gewandt und sie wegen Blasphemie verurteilt (EASO, a.a.O., S. 26 m.w.N.). Wenn ein solcher Fall öffentlich bekannt werde, sei es wahrscheinlich, dass sich die Behörden dazu veranlasst sehen würden, zu handeln. Zwar bestehe auf der obersten Ebene der Politik vermutlich eher der Wunsch, Aufmerksamkeit erregendere Fälle von Konversion aufgrund der mit einem solchen Fall einhergehenden internen Kritik und internationalen Presse zu vermeiden. Auf lokaler Ebene könne es jedoch einzelne Beamte und Polizisten geben, die aus eigener persönlicher Überzeugung hart gegen Apostaten vorgehen würden (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Lage von zum Christentum konvertierten Personen insbesondere in Kabul und Masar-e-Scharif, 7. August 2018).

Auch in der afghanischen Gesellschaft gibt es wenig Toleranz gegenüber Konvertiten und Apostaten. Zahlreichen Quellen zufolge toleriere die Gesellschaft eine Abwendung vom Islam grundsätzlich nicht. Danach können in Afghanistan Menschen, die der Blasphemie oder der Diffamierung des Islam beschuldigt werden, Opfer gezielter Gewalt werden. Im Jahr 2015 hätten in Afghanistan mehrere außergerichtliche Hinrichtungen wegen angeblicher religiöser Straftaten stattgefunden. Personen, die als "Apostaten" gelten, liefen Gefahr, von ihren Mitbürgern ohne Gerichtsverhandlung zu Tode geprügelt zu werden. Es herrsche nur geringe gesellschaftliche Toleranz gegenüber Kritik an religiösen Überzeugungen. Diese werde als dem Islam widersprechend empfunden, und die öffentliche Äußerung entsprechender Ansichten könne massive Reaktionen hervorrufen (EASO, a.a.O., S. 29 m.w.N.). Für Personen, denen Verstöße gegen die Scharia wie Apostasie oder Blasphemie vorgeworfen werden, drohe nicht nur die Gefahr der strafrechtlichen Verfolgung, sondern auch der gesellschaftlichen Ächtung und Gewalt durch Familienangehörige, andere Mitglieder ihrer Gemeinschaften, die Taliban und andere regierungsfeindliche Kräfte (UNHCR, Richtlinien zur Beurteilung internationaler Schutzbedürftigkeit von Asylwerberinnen aus Afghanistan, 19. April 2016, S. 61 f.). In manchen Fällen würden die Leute die Sache selbst in die Hand nehmen und einen Apostaten zu Tode prügeln, ohne dass die Angelegenheit vor Gericht gelange. Apostaten bzw. Konvertiten seien in Sicherheit, solange sie darüber Stillschweigen bewahren würden. Gefährlich werde es dann, wenn öffentlich bekannt werde, dass ein Muslim aufgehört habe, an die Prinzipien des Islam zu glauben. Es gebe kein Mitleid mit Muslimen, die "Verrat an ihrem Glauben" geübt hätten, indem sie zu einer anderen Religion konvertiert seien oder aufgehört hätten, an den einen Gott und an den Propheten Mohammed zu glauben. In den meisten Fällen werde ein Apostat von seiner Familie verstoßen. Selbst aus Sicht vieler Afghanen, die sich allgemein zu demokratischen Werten bekennen würden, stelle es ein Tabu dar, den Islam zu kritisieren. Atheisten und Freidenkende seien daher gezwungen, ihre Überzeugungen zu verbergen (ACCORD, 1. Juni 2017 m.w.N.). Die Hauptbedrohung für Apostaten gehe nicht in erster Linie von den afghanischen Behörden aus, sondern von der Familie selbst und anderen Mitgliedern der Gemeinde (ACCORD, 7. August 2018 m.w.N.). [...]

Die nach aktueller Erkenntnislage geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten sein. Selbst dort werde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen und im privaten sowie familiären Umfeld bedroht sein. Insbesondere bei der Arbeitssuche und im Arbeitsumfeld würde bald auffallen, dass der Kläger sich vom islamischen Glauben abgewandt hat. Als Apostat wäre er geächtet und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch bedroht (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 13. Mai 2012). Der Kläger könnte seine atheistische Überzeugung seiner Umgebung voraussichtlich nicht auf Dauer verbergen. Nach der aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung des Gerichts ist es für den Kläger ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität, sich nicht mehr mit dem muslimischen Glauben zu identifizieren und nicht an muslimischen Riten, insbesondere dem öffentlichen täglich fünfmaligen Gebet, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten teilzunehmen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass eine Privatsphäre nach westlichen Maßstäben innerhalb der afghanischen Gesellschaft nicht existiert. Für den Kläger wäre es daher praktisch unmöglich, sich Zusammenkünften mit Muslimen zu verweigern, ohne sich als Abtrünnigen vom Islam zu offenbaren. Wer nicht betet, muss mit Fragen rechnen. Auch in einer Stadt wie Kabul ist es auf Dauer nicht zu verheimlichen, wenn eine Person nicht muslimischen Glaubens ist. Der Kläger könnte sich von der afghanischen Gesellschaft im Falle seiner Rückkehr nicht isolieren, für sein Überleben müsste er vielmehr Kontakte knüpfen und arbeiten gehen. Damit wäre der Kläger regelmäßig mit verschiedenen Personen in Kontakt und könnte auf Dauer Situationen nicht vermeiden, in denen z.B. ein gemeinsames Gebet, der Besuch einer Moschee o.ä. vorgeschlagen werden. Würde sich der Kläger jedes Mal einem solchen Ansinnen entziehen, liefe er Gefahr, dass sein Abfall vom islamischen Glauben bekannt würde (vgl. dazu auch VG Berlin, Urteil vom 13. April 2018 - VG 10 K 529.17 A -, juris, Rn. 31 m.w.N.). Schutz vor Übergriffen ist in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg vom 22. Dezember 2004). [...]