LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15.06.2020 - L 9 AY 78/20 B ER - asyl.net: M28520
https://www.asyl.net/rsdb/M28520
Leitsatz:

Analogleistungen für eine in Griechenland international schutzberechtigte Familie:

1. Auch die Leistungskürzung nach § 1a Abs. 4 AsybLG erfordert ein pflichtwidriges Verhalten, obwohl dies im Wortlaut der Norm nicht vorgesehen ist. 

2. Die ungleichen Voraussetzungen von Kürzungen nach § 1a Abs. 1-3 AsylbLG, die nach ihrem Wortlaut ein pflichtwidriges Verhalten vorsehen, und § 1a Abs. 4 AsylbLG könnte dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art 3 GG entgegenstehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialleistungen, Analogleistungen, internationaler Schutz in EU-Staat, Griechenland, Leistungskürzung,
Normen: AsylbLG § 2, AsylbLG § 3, AsylbLG § 3a, AsylbLG § 1a Abs. 4, GG Art. 3,
Auszüge:

[...]

Nach § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG gilt die Leistungseinschränkung gemäß § 1a Abs. 1 Satz 1 AsylbLG für alle Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nummern 1 und 1a AsylbLG, denen bereits von einem anderen EU-Mitgliedstaat oder von einem am Verteilmechanismus teilnehmenden Drittstaat im Sinne des Satzes 1 der Vorschrift entweder internationaler Schutz (Nummer 1) oder aber aus anderen Gründen ein Aufenthaltsrecht gewährt worden ist (Nummer 2) und dieser fortbesteht. Der Zweck der Regelung besteht in der Begrenzung der Sekundärmigration insbesondere aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union nach Deutschland in Ergänzung zu § 1a Abs. 4 Satz 1 AsylbLG, wonach eine Anspruchseinschränkung für Fälle vorgesehen ist, in denen ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.

Nach dem Wortlaut kommt es allein darauf an, dass in einem anderen EU-Mitgliedsstaat oder in einem am Verteilmechanismus der Europäischen Union teilnehmenden Drittstaat, andernorts als in Deutschland, internationaler Schutz bzw. Aufenthaltsrecht gewährt worden ist und dieser Status fortdauert. Da Griechenland den Antragstellern bereits einen entsprechenden Schutzstatus gewährt, käme es nach dem Wortlaut des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG ab erfolgter Einreise für die Kürzung von Leistungen ohne weitere Bedarfsprüfung auf weitere Voraussetzungen nicht an.

Indessen fordert die Rechtsprechung für eine solche Einschränkung des Anspruchs im Wege einer normerhaltenden, teleologischen Reduktion, dass dem Leistungsberechtigten ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen ist (z.B. LSG Bayern, Beschluss v. 17. September 2018, L 8 AY 13/18 B ER, juris, Rn. 27 ff.), bzw. dass dem Betroffenen die Rückkehr in das schutzgewährende Land aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen möglich und zumutbar ist (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss v. 19. November 2019, L 8 AY 26/19 B ER, juris Rn. 17).

Auch der Senat hält eine teleologische Reduktion des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG aus verfassungsrechtlichen Gründen für geboten. Würde eine Leistungskürzung unter Berücksichtigung des Wortlautes allein davon abhängig gemacht, dass der Leistungsberechtigte einem europäischen Asylregime unterworfen ist, ohne dass explizit an ein konkretes Fehlverhalten angeknüpft wird, widerspräche dies dem bisherigen Sanktionssystem im AsylbLG, in der Grundsicherung für Arbeitssuchende (Zweites Buch Sozialgesetzbuch SGB <II>) sowie bei der Sozialhilfe (Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch <SGB XII>), bei dem der Leistungsberechtigte es in der Hand hat, eine Leistungskürzung zu vermeiden oder zu beenden. So hat das Bundesverfassungsgericht mit Urteil vorn 18. Juli 2012 (1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11) bezogen auf die Verfassungswidrigkeit der Höhe der Geldleistungen nach § 3 Abs. 2 Satz 2, 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 4 AsylbLG a.F. bereits mit deutlichen Worten ausgeführt, dass migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen. Denn "die in Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) garantierte Menschenwürde ist migrationstechnisch nicht zu relativieren" (BVerfG, Urteil v. 18. Juli 2012, a.a.O., juris Rn. 95; so auch das BSG, Urteil v. 12. Mai 2017, B 7 AY 1/16, juris Rn. 29/32).

In diesem Zusammenhang schließt sich der Senat dem zutreffenden Hinweis des Bayerischen Landessozialgerichts (Beschluss v. 17. September 2018, L 8 AY 13/18 B ER, juris Rn. 32 m.w.H.) an, wonach Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG im Vergleich zu Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII ohnehin bereits reduziert sind, so dass jede weitere Leistungseinschränkung eine nochmalige Absenkung des Leistungsniveaus zur Folge hat und bei einer großzügigen Handhabung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG die Gefahr einer unzulässigen Unterschreitung des von Verfassung wegen stets zu gewährleistenden menschenwürdigen Existenzminimums der Leistungsberechtigten und ihrer Familienangehörigen besteht.

Zudem bestehen erhebliche Zweifel, ob die Regelung des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG dem Gleichbehandlungsgrundsatz nach Art. 3 Abs. 1 GG gerecht wird, wenn den von Anspruchseinschränkungen Betroffenen in § 1a Abs. 1 - 3 AsylbLG ein konkretes, selbst zu vertretendes ausländerrechtliches Fehlverhalten vorgeworfen wird und als Folge dessen eine Leistungseinschränkung greift, § 1a Abs. 4 AsylbLG ein solches aber dem Wortlaut nach nicht regelt. Und schließlich bleibt unberücksichtigt, aus welchen Gründen die Sekundärmigration erfolgt. So ist mit Blick auf die Menschenrechtskonvention eine Abschiebung in einen anderen EU-Staat ausgeschlossen, wenn z.B. für minderjährige Kinder keine Garantieerklärung abgegeben wurde (vgl. hierzu ausführlich Oppermann in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl., § 1a AsylbLG Rn. 129 m.w.N.).

Unter Berücksichtigung der obigen Ausführungen und insbesondere der Notwendigkeit einer auf diese Weise normerhaltenden Reduktion des § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG bewertet der Senat nicht bereits die Einreise der Antragsteller nach Deutschland als pflichtwidriges Fehlverhalten.

Ungeachtet der derzeitigen Ein- und Ausreisebeschränkungen aufgrund der Corona-Pandemie sowie des Umstands, dass auch der Antragsgegner kein konkretes Fehlverhalten der Antragsteller benennt, sondern vielmehr auf die Verhältnisse bei Einreise abstellt, führt die oben beschriebene verfassungskonforme Auslegung der Regelung in § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG jedenfalls im Hinblick auf den noch nicht abschließend geklärten aufenthaltsrechtlichen Status zu einer Nichtanwendung dieser Leistungskürzung (so im vergleichbaren Fall auch SG Hamburg, Beschluss v. 8. Juli 2019, S 28 AY 48/19 ER, juris Rn. 8). [...]