VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 03.06.2020 - 11 A 558/18 - asyl.net: M28521
https://www.asyl.net/rsdb/M28521
Leitsatz:

Keine Fortgeltung der Sperrwirkung einer Ausweisung, die vor Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 ausgesprochen wurde:

Da Deutschland die Rückführungsrichtlinie verspätet umgesetzt hat, entfalten aufgrund der zwischenzeitlichen unmittelbaren Anwendbarkeit der Richtlinie alle Ausweisungen und Abschiebungen, die bis zum 26.11.2006 erfolgt sind, keine Sperrwirkungen mehr.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Einreise- und Aufenthaltsverbot, Sperrwirkung, Titelerteilungssperre, Ausweisung, Straftat, Generalpräventiver Zweck, spezialpräventiv, Rückführungsrichtlinie, Altfall, Übergangsregelung,
Normen: AufenthG § 11, RL 2008/115/EG Art. 11 Abs. 2 S. 2, RL 2008/115/EG Art. 11 Abs. 2
Auszüge:

[...]

24 Allerdings hat der Kläger dennoch ein berechtigtes Interesse an der Feststellung, dass keine Sperrwirkungen mehr bestehen, da er bei zukünftigen Einreisen in die Bundesrepublik Deutschland bzw. in den Schengen-Raum mit Hindernissen rechnen muss. Ob eine erneute Einreise und Aufenthalt des Klägers in Deutschland nach § 95 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG strafbar wären, wenn keine Sperrwirkungen mehr von der Ausweisung ausgehen, kann dabei offenbleiben. Jedenfalls wird der Kläger im Rahmen einer möglichen Wiedereinreise und einer damit einhergehenden grenzpolizeilichen Einreisekontrolle mit der Eintragung in den (bundespolizeilichen) Informationssystemen konfrontiert, dass ein unbefristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot bestehe. Diese Eintragung wird auch nicht ohne Weiteres entfernt oder geändert. Angesichts dieser Eintragung bestünde sodann zunächst der Anschein eines strafbaren Verhaltens des Klägers, so dass er infolgedessen mit Schwierigkeiten rechnen muss. Ohne eine Feststellung, dass die Sperrwirkungen gegenwärtig nicht mehr existieren, kann dem Kläger der Nachweis über deren Nichtbestehen nicht gelingen, sodass er ein berechtigtes Interesse an der gerichtlichen Feststellung hat. [...]

28 Die Rückführungsrichtlinie enthält keine Übergangsbestimmungen für Einreiseverbote, die erlassen wurden, bevor sie anwendbar war. Außerdem gilt nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes eine neue Vorschrift unmittelbar für die künftigen Auswirkungen eines Sachverhaltes, der unter der Geltung der alten Rechtslage entstanden ist, soweit nichts Abweichendes bestimmt ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19.09.2013 – C-297/12 –, juris Rn. 39 f.).

29 In Konsequenz des zitierten Urteils des Europäischen Gerichtshofes, sind Sperrwirkungen, die bei Ablauf der Umsetzungsfrist der Rückführungsrichtlinie zum 24.12.2010 bereits fünf Jahre angedauert haben, wirkungslos, es sei denn der Drittstaatsangehörige stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit dar. Da Deutschland die Rückführungsrichtlinie verspätet, nämlich erst zum 26.11.2011, umgesetzt hat, entfalten aufgrund der dazwischen liegenden unmittelbaren Anwendung der Richtlinie alle Ausweisungen und Abschiebungen, die bis zum 26.11.2006 erfolgt sind, keine Sperrwirkungen mehr, es sei denn vom Drittstaatsangehörigen geht weiter eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder die nationale Sicherheit im Sinne des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie aus (vgl. Dollinger in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 11 Rn. 86 f.). Zwar bezieht sich die genannte Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes auf die strafrechtlichen Anknüpfungen an die Sperrwirkungen. Die Ausführungen über die Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie sind jedoch allgemeingültig und nehmen auch wörtlich keinen Bezug auf eine strafrechtliche Anknüpfung.

30 Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 25.03.2015 – 1 C 18/14 –, juris Rn. 18), nach welcher die Wirkungen der Ausweisung nicht automatisch nach Ablauf von fünf Jahren ab Ausreise entfallen, findet hingegen keine Anwendung. Diese Feststellung bezieht sich auf Fälle, in denen ein über fünf Jahre dauerndes Einreise- und Aufenthaltsverbot gegeben war, weil der Ausländer eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit darstellt. Dies ist hier gerade nicht der Fall. Der Kläger stellt keine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung, die öffentliche Sicherheit oder die nationale Sicherheit dar. Daher entfallen die Sperrwirkungen automatisch mit Ablauf des fünften Jahres und ohne dass es eines dahingehenden Antrages bedarf (vgl. Oberhäuser in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 11 Rn. 5). [...]