OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27.05.2020 - 11 S 45.19 - asyl.net: M28546
https://www.asyl.net/rsdb/M28546
Leitsatz:

Verteilungsverfahren eines minderjährig und unbegleitet eingereisten Jungen aus Vietnam unzulässig:

"Mit der Entscheidung eines Jugendamts, dass eine (vorläufige) Inobhutnahme des unbegleitet eingereisten Minderjährigen nicht erfolge, weil dieser bereits von einem Familienangehörigen betreut wird, ist zwangsläufig eine Entscheidung über den Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen beim Personensorge- oder Erziehungs­berechtigten verbunden. § 15a AufenthG ist in diesem Fall nicht anwendbar.

Die derart begründete Zuständigkeit entfällt nicht deshalb wieder, weil der als unbegleiteter Minderjähriger eingereiste Antragsteller bereits vor einer mit dieser Zuständigkeitsklärung ermöglichten erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Duldung volljährig geworden ist."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: minderjährig, Sorgerecht, erziehungsberechtigt, Mutter, Vater, Eltern, personensorgeberechtigt, Verteilungsverfahren, Volljährigkeit, Inobhutnahme, Zuständigkeit, unbegleitete Minderjährige, unerlaubte Einreise,
Normen: AufenthG § 15a, SGB VIII § 42a, SGB VIII § 42, SGB VIII § 42b,
Auszüge:

[...]

7 1. Der Antragsteller ist für die begehrte Entscheidung zuständig. Für eine gem. § 15a AufenthG im Fall unerlaubter Einreise vorzunehmende Verteilung des Antragstellers ist entgegen der mit der Beschwerde angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts kein Raum mehr, weil sie auf den als unbegleiteter Minderjähriger eingereisten und im Ergebnis eines Verfahrens gem. §§ 42a ff. SGB VIII in der Obhut seiner Mutter belassenen Antragsteller nicht anwendbar ist.

8 Wie der 3. Senat des Oberverwaltungsgerichts (Beschluss vom 1. April 2020 – OVG 3 S 124.19 –, juris Rn. 4 ff.) in Auswertung der Gesetzesbegründung sowie einschlägiger Rechtsprechung und Literatur überzeugend ausgeführt hat, enthält das Kinder- und Jugendhilferecht für Minderjährige, die – wie der im Zeitpunkt seiner Einreise 17 Jahre alte Antragsteller – ohne Personensorge- oder Erziehungsberechtigte in die Bundesrepublik eingereist sind, mit dem Institut der Inobhutnahme ausländischer Kinder und Jugendlicher (§ 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII) sowie insbesondere den Bestimmungen der §§ 42a ff. SGB VIII über die vorläufige Inobhutnahme und den daran anknüpfenden jugendhilferechtlichen Verteilungsregelungen ein Sondersystem, das den Befugnissen des § 15a AufenthG vorgeht. Den Jugendhilfebehörden obliege in diesem Zusammenhang insbesondere auch die Prüfung, ob der Minderjährige unbegleitet eingereist sei und in eine Betreuung durch Verwandte übergeben werden könne (vgl. § 42a Abs. 5 S. 2, Abs. 6 SGB VIII) oder sich bereits (wieder) in der Obhut einer personensorge- oder erziehungsberechtigten Person befinde. Im letztgenannten Fall komme weder eine vorläufige Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 SGB VIII noch infolge fehlender Tatbestandsmäßigkeit die Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB VIII in Betracht. Das Jugendamt habe eigenständig und aufgrund seiner Sachkompetenz abschließend zu prüfen, ob aufgrund der familiären Beziehung zwischen dem Minderjährigen und der betreuenden Person eine (vorläufige) Inobhutnahme ausscheide. Damit sei zwangsläufig eine Entscheidung über den Aufenthalt des Kindes bzw. Jugendlichen beim Personensorge- bzw. Erziehungsberechtigten verbunden (vgl. auch § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII, der ein Verteilungsverfahren ausschließe, wenn eine Zusammenführung des Minderjährigen mit einer verwandten Person kurzfristig erfolgen könne). [...]

10 Die derart begründete Zuständigkeit entfällt auch nicht deshalb wieder, weil der als unbegleiteter Minderjähriger eingereiste Antragsteller bereits vor einer mit dieser Zuständigkeitsklärung ermöglichten erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis oder Duldung volljährig geworden ist. Zwar enthält § 15a AufenthG kein dessen Anwendbarkeit für einen solchen Fall ausdrücklich ausschließendes Tatbestandsmerkmal. Dem mit der Verteilung nach § 15a AufenthG verfolgten Interesse, eine gleichmäßige Verteilung der aufgrund von unerlaubt eingereisten Ausländern hervorgerufenen Lasten zu erreichen, ist aber mit dem jugendhilferechtlichen Verteilungsverfahren bereits Genüge getan, weil auch dieses eine am Königsteiner Schlüssel orientierte Verteilung vorsieht (§ 42c Abs. 1 S. 1 SGB VIII) und diejenigen Fälle, in denen eine Verteilung ausgeschlossen ist (d.h. u.a. in einem Fall gem. § 42b Abs. 4 Nr. 3 SGB VIII), gemäß § 42c Abs. 2 SGB VIII auf die Quote angerechnet werden (vgl. OVG Bremen, Beschluss v. 18. Dezember 2018 - 1 B 148/18 -, juris Rn 10). [...]