OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 17.02.2020 - 3 A 44/18 - asyl.net: M28550
https://www.asyl.net/rsdb/M28550
Leitsatz:

Keine Erforderlichkeit eines Mindeststrafmaßes für Ausweisungsinteresse wegen strafrechtlicher Verurteilung:

"Der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist auch dann eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG genannte Mindestmaß erreicht."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Niederlassungserlaubnis, Ausschlussgrund, Ausweisungsinteresse, Ausweisungsgrund, Straftat, Geringfügigkeit, Ermessen, allgemeine Erteilungsvoraussetzungen, Strafmaß,
Normen: AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 9, AufenthG § 54 Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 53,
Auszüge:

[...]

5 Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob im Zusammenhang mit der Erteilung von Niederlassungserlaubnissen gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG das Ausweisungsinteresse i.S.v. § 53 Abs. 1 AufenthG schwer wiegt, wenn wegen Taten Verurteilungen erfolgt sind, die nicht die Schwelle des § 54 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 AufenthG erreichen. Zur Begründung der Klärungsbedürftigkeit verweist der Kläger auf einen stattgebenden Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt (OVG LSA, Beschl. v. 10. Oktober 2016 - 2 O 26/16 -, juris Rn. 9 ff.) über eine Beschwerde gegen die Versagung von Prozesskostenhilfe betreffend eine Klage gegen eine Ausweisungsverfügung. Das Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt hatte dort wegen dieser Frage hinreichende Erfolgsaussichten bejaht.

6 Nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne von § 53 Absatz 1 AufenthG schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften oder gerichtliche oder behördliche Entscheidungen oder Verfügungen begangen oder außerhalb des Bundesgebiets eine Handlung begangen hat, die im Bundesgebiet als vorsätzliche schwere Straftat anzusehen ist.

7 Der aufgeworfenen Frage kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu. Es ist obergerichtlich geklärt, dass bei einer Verurteilung wegen Untreue in zwei Fällen zu 135 Tagessätzen jedenfalls ein schwer wiegendes Ausweisungsinteresse i. S. v. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG in Form eines nicht nur geringfügigen Verstoßes gegen Rechtsvorschriften gegeben ist.

8 § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist dahin zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, andererseits aber immer dann beachtlich ist, wenn er vereinzelt, aber nicht geringfügig oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist (SächsOVG, Urt. v. 18. Oktober 2018 - 3 A 756/18 -, juris Rn 33; zu § 46 Nr. 2 AuslG: BVerwG, Urt. v. 18. November 2004 - 1 C 23.03 -, juris Rn. 21; Urt. v. 24. September 1996 - 1 C 9.94 -, juris Rn. 19). [...]

10 Der Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist jedoch auch dann eröffnet, wenn das Strafmaß bei einem Verstoß gegen Strafvorschriften nicht das in § 54 Abs. 2 Nr. 1 und 2 AufenthG genannte Mindeststrafmaß erreicht. Es besteht keine Veranlassung, den - in Anlehnung an die Rechtsprechung zu § 55 Abs. 2 Nr. 2 AufenthG a. F. - bestimmten Anwendungsbereich des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG mit Blick auf etwaige Wertungswidersprüche zu den insbesondere in § 54 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 AufenthG benannten Ausweisungsinteressen teleologisch zu reduzieren. Dies ist inzwischen die überwiegende Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung, welche die vom Oberverwaltungsgericht Sachsen-Anhalt geäußerten Bedenken in dem vom Kläger angeführten Beschluss (OVG LSA, Beschl. v. 10. Oktober 2016 - 2 O 26/16 -, juris 9 ff.) nicht teilt (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 11. Januar 2019 - 18 A 4750/18 -, juris Rn. 6 ff.; NdsOVG, Urt. v. 14. November 2018 - 13 LB 160/17 -, juris Rn. 41; Beschl. v. 20. Juni 2017 - 13 LA 134/17 -, juris Rn. 11; BayVGH, Beschl. v. 19. September 2017 - 10 C 17.1434 -, juris Rn. 8) und der sich beschließende Senat anschließt. Denn die numerisch aufgeführten schwerwiegenden Ausweisungsgründe des § 54 Abs. 2 AufenthG stehen - schon nach der Systematik der Vorschrift - in keinem Stufenverhältnis zueinander, sondern begründen bei Erfüllung der jeweiligen Voraussetzungen jeweils für sich genommen ein entsprechendes Ausweisungsinteresse. Die in den Katalogen der Absätze 1 und 2 des § 54 AufenthG konkretisierten Ausweisungsinteressen sind vom Bundesgesetzgeber alle als schwerwiegend bewertet worden. Die zugrundeliegenden Handlungen sind aber ersichtlich nicht gleicher Art und auch nicht in gleicher Weise sanktioniert oder pönalisiert. Innerhalb des Katalogs der schwerwiegenden Ausweisungsinteressen des § 54 Abs. 2 AufenthG kommt § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG nach den Gesetzesmaterialien ausdrücklich eine eigenständige Auffangfunktion zu (NdsOVG, Beschl. v. 20. Juni 2017 - 13 LA 134/17 -, juris Rn. 11). [...]