LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.05.2020 - L 20 AY 7/20 B ER - asyl.net: M28568
https://www.asyl.net/rsdb/M28568
Leitsatz:

Keine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 AsylG für Inhaber*innen einer Duldung:

"1. Der eindeutige Wortlaut des § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG verbietet es, die gesetzlich vorgesehene Leistungeinschränkung von weiteren Voraussetzungen (ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal der Möglichkeit und Zumutbarkeit der Rückkehr in das für das Asylverfahren zuständige Land) abhängig zu machen.

Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann das Gericht die Leistungseinschränkung deshalb nicht unbeachtet lassen, auch wenn sie verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet.

2. Die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG greift nicht, sobald dem betroffenen Ausländer eine Duldung (§ 60a AufenthG) erteilt worden ist. Bei Duldung kommen allein Einschränkungen nach § 1a Abs. 2 und Abs. 3 Satz 1 AsylbLG (bei Erfüllung der dortigen Voraussetzungen) in Betracht."

3. § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG begegnet verfassungsrechtlichen Bedenken, die im Hauptsacheverfahren zu klären sind.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Sozialrecht, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Duldung,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 7 S. 1, AufenthG § 60a,
Auszüge:

[...]

b) Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts steht dem Antragsteller das Taschengeld nicht etwa schon deshalb zu, weil es zuvor bereits von der Antragstellerin bewilligt worden wäre und diese Bewilligung mangels Aufhebung noch fortwirken würde.

Das Sozialgericht ist vielmehr zu Unrecht davon ausgegangen, dass es zunächst der Aufhebung einer Bewilligungsentscheidung nach dem AsylbLG bedurft hätte, bevor mit Bescheid vom 05.12.2019 (mittlerweile in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13.02.2020) eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG hätte erfolgen dürfen. Denn die Antragstellerin hat dem Antragsgegner das streitbefangene Taschengeld stets allein durch wöchentliche Auszahlung faktisch bewilligt. Diese konkludenten Leistungsbewilligungen konnten sich jedoch stets nur auf die jeweils betroffene Woche beziehen; eine Bewilligung auch für die weitere Zukunft war damit zu keiner Zeit verbunden. Dass mithin seit dem Bescheid vom 05.12.2019 keine konkludenten Neubewilligungen von Taschengeld-Leistungen mehr erfolgen, greift deshalb in kein bereits bescheidmäßig geregeltes Leistungsverhältnis ein; dementsprechend gab es auch keine Bewilligungsentscheidung, die vor der Verfügung der Leistungseinschränkung zunächst hätte zurückgenommen werden müssen.

c) Kann einstweiliger Rechtsschutz deshalb vom Antragsteller allenfalls im Wege einer einstweiligen Anordnung i.S.v. § 86b Abs. 2 S. 2 SGG erreicht werden, so liegen die Voraussetzungen dafür erst ab Erteilung der Duldung am 27.02.2020 vor. Für die Zeit davor verbietet hingegen § 1a Abs. 7 Satz 1 AsylbLG die Gewährung der streitbefangenen Leistungen. [...]

cc) Für die Zeit vom 06.12.2019 bis zur Erteilung der Duldung, also bis zum 26.02.2020, lagen die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG vor. Dem Antragsteller fehlt insoweit bereits ein Anordnungsanspruch.

Nach dieser Vorschrift erhalten Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 oder Nr. 5, deren Asylantrag durch eine Entscheidung des BAMF nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 31 Abs. 6 AsylG als unzulässig abgelehnt wurde und für die eine Abschiebung nach § 34a Abs. 1 S. 1 Alt. 2 AsylG angeordnet wurde, nur Leistungen entsprechend § 1a Abs. 1 AsylbLG, auch wenn die Entscheidung noch nicht unanfechtbar ist. Das gilt nach § 1a Abs. 7 S. 2 AsylbLG (nur dann) nicht, sofern ein Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet hat. [...]

(4) § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG setzt auch nicht etwa - als ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal - voraus, dass dem Betroffenen eine Rückkehr in das für sein Asylverfahren zuständige Land (hier: Italien) möglich und zumutbar ist. Hat der Senat für die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 4 S. 2 AsylbLG (bei einstweiliger Entscheidung im Wege einer Folgenabwägung) ein solches ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal angenommen (Beschluss des Senats vom 27.03.2020 - L 20 AY 20/20 B ER), so betrifft diese Norm Leistungsberechtigte nach § 1 Nr. 1 bzw. Nr. 1a AsylbLG, über deren Asylantrag in Deutschland mithin noch nicht entschieden ist. § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG hingegen lässt angesichts seines eindeutigen Wortlauts die Annahme eines die Leistungseinschränkung von weiteren Voraussetzungen abhängig machenden ungeschriebenen Tatbestandsmerkmals nicht zu (vgl. auch Beschluss des Senats vom 13.03.2020 - L 20 AY 48/19 B ER; einschränkend indes SG München, Beschluss vom 10.02.2020 - S 42 AY 82/19 ER Rn. 37, sowie SG Landshut, Beschlüsse vom 28.01.2020 - S 11 AY 3/20 ER Rn. 48 f. und vom 23.01.2020 - S 11 AY 79/19 ER Rn. 28 ff., die eine teleologische Reduktion dahingehend annehmen, dass dem Ausländer ein pflichtwidriges Verhalten vorzuwerfen sein müsse). Ob eine Rückkehr des Antragstellers nach Italien - etwa aus gesundheitlichen Gründen - als nicht zumutbar anzusehen wäre, kann der Senat daher offen lassen.

(5) Die nach der Normfassung des § 1a Abs. 7 AsylbLG danach einzig denkbare Ausnahme von einer Leistungskürzung ist eine gerichtliche Entscheidung, mit der die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet wurde. [...]

dd) Ab Erteilung der Duldung am 27.02.2020 jedoch sind die Voraussetzungen für eine Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG entfallen. [...]

(1) Dass die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG bei Erteilung einer Duldung entfällt, ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut der Norm selbst, die u.a. eine Einschränkung für Leistungsberechtigte nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylLG (vollziehbare Ausreisepflicht, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist) vorsieht. Denn der Antragsteller ist auch nach Erteilung der Duldung vollziehbar ausreisepflichtig; die ihm erteilte Duldung setzt zwar die Abschiebung vorübergehend aus, lässt die Ausreisepflicht jedoch unberührt (§ 60a Abs. 3 AufenthG).

(2) Die fehlende Anwendbarkeit des § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG auf nach § 60a AufenthG geduldete Ausländer ergibt sich jedoch aus der Binnensystematik des § 1a AsylbLG.

Denn eine Leistungseinschränkung für nach § 60a AufenthG geduldete Ausländer wird in § 1a Abs. 2 und Abs. 3 S. 1 AsylbLG (mit dort jeweils genannten weiteren Voraussetzungen) besonders geregelt. [...]

Es ergäbe gesetzessystematisch keinen Sinn, eigene Regelungen in § 1a AsylbLG für den Kreis der Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG (Geduldete) vorzusehen, diesen Personenkreis aber nicht zugleich ausdrücklich in § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG einzubeziehen, wollte man letzteren Einschränkungstatbestand auch bei Geduldeten angewandt wissen. Bei Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG gilt deshalb die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG nicht; eine Leistungseinschränkung gilt für sie vielmehr nur unter den weiteren (für den Antragsteller einstweilen nicht feststellbaren) Voraussetzungen des § 1a Abs. 2 bzw. Abs. 3 AsylbLG. Eine solche systematisch einschränkende Auslegung ist schon deshalb geboten, weil die Leistungseinschränkung selbst verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt ist (dazu sogleich bei d) und es daher einer (für die Leistungsberechtigten) möglichst engen Auslegung bedarf.

d) Soweit der Antragsteller verfassungsrechtliche Bedenken gegen die (einstweilen bei ihm bis zum 26.02.2020 vorzunehmende) Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG geltend macht, so sind diese im Hauptsacheverfahren zu klären.

aa) Allein im Rahmen des Hauptsacheverfahrens wäre eine Anrufung des Bundesverfassungsgericht möglich. Einstweilen jedoch sieht sich der Senat an den eindeutigen Wortlaut des § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG gebunden. Schon da er keine verfassungsrechtliche Verwerfungskompetenz besitzt (vgl. Art. 100 I GG), kann er nicht - contra legem - aus allein verfassungsrechtlichen Erwägungen einstweilen uneingeschränkte Leistungen nach §§ 3 ff. AsylbLG zusprechen.

bb) Im Hauptsacheverfahren dürfte verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Leistungseinschränkung nach § 1a Abs. 7 S. 1 AsylbLG allerdings näher nachzugehen sein. Diese Bedenken liegen deshalb nahe, weil diese Leistungseinschränkung das Grundrecht des Antragstellers auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums beeinträchtigen dürfte. [...]