OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.06.2020 - 9 B 765/20 (Asylmagazin 8/2020, S. 276) - asyl.net: M28569
https://www.asyl.net/rsdb/M28569
Leitsatz:

Keine Aufhebung der Wohnverpflichtung in Gemeinschaftsunterkunft:

Keine Aufhebung der Verpflichtung, in der Gemeinschaftsunterkunft zu wohnen, weil aufgrund der Maßnahmen zum Infektionsschutz, die dort getroffen wurden, kein erhöhtes Infektionsrisiko besteht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft, Corona-Virus, Wohnverpflichtung, Pandemie, Epidemie, Infektionsschutz, Infektionsrisiko,
Normen: GG Art. 2 Abs. 2, AsylG § 47 Abs. 1, AsylG § 49 Abs. 2
Auszüge:

[...]

Das Verwaltungsgericht hat den auf eine dezentrale Unterbringung der Antragsteller außerhalb der Gemeinschaftsunterkunft ... in ... gerichteten Eilantrag abgelehnt und hierzu ausgeführt: Die Antragsteller hätten einen Anordnungsanspruch auf eine anderweitige Unterbringung nicht glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO). Der Unterbringungsanspruch aus § 14 Abs. 1 OBG NRW sei gegenwärtig erfüllt. Ein solcher Anspruch sei auf die Unterbringung in einer menschenwürdigen Unterkunft gerichtet, die Schutz vor den Unbilden der Witterung biete sowie Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse lasse. Dabei müsse die Antragsgegnerin auch die spezifischen virologischen und epidemiologischen Anforderungen berücksichtigen, die sich aus der aktuellen Corona-Pandemie ergäben. Der aus Art. 2 Abs. 2 GG folgende Schutzanspruch der Antragsteller könne aber nicht darauf gerichtet sein, diese von dem allgemeinen Ansteckungsrisiko gänzlich zu befreien, sondern nur darauf, dass sich aus der gewählten Art der Unterbringung kein signifikant erhöhtes Ansteckungsrisiko ergebe. Ein solches erhöhtes Ansteckungsrisiko sei in der Gemeinschaftsunterkunft ... angesichts der von der Antragsgegnerin ergriffenen Schutzmaßnahmen - unter Einbeziehung der ergänzenden Anordnungen im angefochtenen Beschluss - nicht festzustellen. Die Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft seien auf die sich aus §§ 1 Abs. 1 und 2 Abs. 1 CoronaSchVO NRW ergebenden Verhaltenspflichten, insbesondere auf die Einhaltung des Abstandsgebots, auf verschiedene Weise (Informationen in verschiedenen Sprachen, Piktogramme, persönliche Gespräche) hingewiesen worden. Die eigenverantwortliche Einhaltung dieser Regeln durch die Bewohner der Gemeinschaftsunterkunft sei nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Antragsgegnerin zu den getroffenen Schutzvorkehrungen auch in den von den Bewohnern gemeinschaftlich genutzten Bereichen (Flure, Außenbereich, Speiseräume) möglich. Um ein Fehlverhalten einzelner Bewohner zu verhindern, habe die Antragsgegnerin in den Speiseräumen Sicherheitspersonal damit beauftragt, die Einhaltung der Verhaltenspflichten sowie des Abstandsgebotes zu kontrollieren. In Bezug auf die von den Bewohnern gemeinschaftlich genutzten Sanitäreinrichtungen hat das Verwaltungsgericht die Antragsgegnerin im angefochtenen Beschluss zu ergänzenden (Kontroll-)Maßnahmen sowie - nach Maßgabe der insoweit formulierten Einschränkung - zur Aushändigung von Desinfektionsmittel an die Antragsteller verpflichtet. [...]

Mit dem pauschalen Hinweis auf die Infektionszahlen in anderen Flüchtlings- bzw. Gemeinschaftsunterkünften haben die Antragsteller ein grundsätzlich erhöhtes Ansteckungsrisiko in der von ihnen bewohnten Gemeinschaftsunterkunft ... nicht glaubhaft gemacht. Die Frage der Ansteckungsgefahr lässt sich nur einzelfallbezogen für die jeweilige Einrichtung anhand des dort ergriffenen Schutzkonzepts beantworten. Das Verwaltungsgericht hat in der angefochtenen Entscheidung (vgl. Entscheidungsabdruck, Blatt 3 f.) die Schutzmaßnahmen der Antragsgegnerin in der Gemeinschaftsunterkunft ... beschrieben und diese - unter Einbeziehung der ergänzenden Anordnungen im angegriffenen Beschluss - als ausreichend erachtet. Damit setzt sich die Antragsbegründung nicht auseinander. Die Antragsteller, die für sich nicht geltend machen, einer besonderen Risikogruppe anzugehören, zeigen nicht auf, dass sich die getroffenen Schutzmaßnahmen als nicht ausreichend erweisen könnten. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich. Vielmehr spricht der Umstand, dass es trotz der in der Gemeinschaftsunterkunft ... nachgewiesenen Infektionsfälle Ende April/Anfang Mai 2020 in zwei Familien zu keinen weiteren Erkrankungen gekommen ist, dafür, dass die Schutzmaßnahmen der Antragsgegnerin effektiv sind. Nach den Angaben der Antragsgegnerin wurden aufgrund der festgestellten Erkrankung eines Kindes sämtliche Bewohner getestet und - nachdem ein weiteres Kind erkrankt war - mit Allgemeinverfügung vom 2. Mai 2020 eine Quarantänemaßnahme angeordnet. Die betroffenen zwei Familien und weitere Kontaktpersonen wurden anderweitig untergebracht. Weitere Infektionen in der Gemeinschaftsunterkunft ... blieben aus.

Soweit die Antragsteller weiter geltend machen, dass sie durch eigene Vorsichtsmaßnahmen einen (durch andere Bewohner verursachten) Infektionsfall nicht vermeiden könnten und so schutzlos einer möglichen Freiheitsentziehung durch Quarantänemaßnahmen ausgeliefert seien, rechtfertigt auch dies keine andere Bewertung.

Vorauszuschicken ist, dass die Antragsteller gegenwärtig keiner Quarantänemaßnahme unterliegen. Die mit Allgemeinverfügung der Antragsgegnerin vom 2. Mai 2020 angeordnete Quarantänemaßnahme war befristet bis zum 13. Mai 2020 und wurde, nachdem keine weiteren Infektionen bei den Bewohnern festgestellt wurden, nicht verlängert. Die grundsätzliche Möglichkeit, dass es - trotz der gegenwärtig rückläufigen Infektionszahlen - künftig erneut zu einer freiheitsbeschränkenden Quarantänemaßnahme auf der Grundlage von § 30 Abs. 1 Satz 2 IfSG kommen könnte, was naturgemäß nicht absehbar ist, lässt die Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft - die gebotenen Schutzvorkehrungen vorausgesetzt - nicht als unzumutbar erscheinen. Dieses Risiko stellt für die Antragsteller keine besondere, individuelle Belastung dar. Vielmehr betrifft dieses Risiko in der gegenwärtigen Situation der Corona-Pandemie einen Großteil der Bevölkerung und ist daher hinzunehmen. Eine potentielle Ansteckungsgefahr besteht immer dort, wo es zu Kontakten mit anderen Personen kommt. Diese hängen nach Art und Umfang von der jeweiligen individuellen Lebenssituation ab, sind häufig in Beruf und Alltag aber nicht zu vermeiden. [...] Überdies sind die Antragsteller in der Gemeinschaftsunterkunft ... nur vorübergehend untergebracht bis zu einer Entscheidung im Verteilungsverfahren nach § 15a AufenthG, die - voraussichtlich - zeitnah erfolgen soll. [...]