VG Kassel

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Zitieren als:
VG Kassel, Beschluss vom 03.07.2020 - 4 L 904/20.KS.A - asyl.net: M28595
https://www.asyl.net/rsdb/M28595
Leitsatz:

Eilrechtsschutz während behördlicher Aussetzung der Vollziehung der Dublin-Überstellung wegen Corona-Pandemie in Italien:

1. Für einem Eilrechtsantrag mit dem Ziel, den Dublin-Bescheid wegen Ablauf der Überstellungsfrist aufzuheben, besteht ein Rechtsschutzbedürfnis, auch wenn die Behörde die Vollziehung der Überstellungsentscheidung im Hinblick auf die Corona-Pandemie "bis auf weiteres" ausgesetzt hat und diese Entscheidung noch nicht widerrufen wurde.

2. Denn die gerichtliche Anordnung versetzt Betroffene in eine vorteilhaftere Rechtsposition: Nach Widerruf der behördlichen Aussetzung wäre ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO verfristet und gleichwertiger Rechtsschutz nicht mehr zu erlangen. Obwohl auch ein Gerichtsbeschluss jederzeit nach § 80 Abs. 7 VwGO von Amts wegen geändert werden kann und deshalb keinen gesicherten Abschiebungsschutz bis zum in § 80b VwGO festgelegten Zeitpunkt bietet, findet dies in einem festgelegten Verfahren mit bestimmten Verfahrensgarantien statt, wie einer Anhörungspflicht der Betroffenen. Bezieht sich die behördliche Aussetzungsentscheidung zudem nur auf die aktuelle Lage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, wird Betroffenen, die aus anderen Gründen Rechtsschutz begehren, dieser abgeschnitten bzw. unzumutbar erschwert.

3. Die Abschiebungsanordnung ist bereits deshalb offensichtlich rechtswidrig, weil derzeit keine zuverlässige Prognose möglich ist, ob Überstellungen nach Italien innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist wieder durchgeführt werden können. Die durch die Corona-Pandemie verursachte Krise in Italien, die zum beinahe vollständigen Erliegen des öffentlichen Lebens geführt hat, wird sich erst nach und nach wieder normalisieren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Italien, Aussetzung der Vollziehung, Suspensiveffekt, Abschiebungsanordnung, Rechtsschutzinteresse, Überstellungsfrist,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 7, VwGO § 80b Abs. 1 S. 2, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/13 Art. 29 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist in ihrer Wirkung nicht identisch mit der gerichtlichen Anordnung nach § 80 Abs. 5 VwGO. Sie bewirkt nämlich nicht, dass der Anfechtungsklage wieder aufschiebende Wirkung zugeführt wird, wenn auch de facto - zunächst - das gleiche Ergebnis hergestellt wird. Die Aussetzung verhindert vielmehr unabhängig von einer Anfechtungsklage, also auch wenn eine solche nicht erhoben wird, vorläufig die Vollziehung der Anordnung. Auch in ihrer zeitlichen Wirkung sind die beiden Verfahren nicht zwingend identisch. Nach § 80b Abs. 1 Satz 2 VwGO endet die mit gerichtlicher Entscheidung angeordnete aufschiebende Wirkung der Klage mit der Unanfechtbarkeit bzw. drei Monate nach Ablauf der gesetzlichen Begründungsfrist. Nach Satz 2 gilt dies zwar explizit auch, wenn die Vollziehung durch die Behörde ausgesetzt oder die aufschiebende Wirkung durch das Gericht wiederhergestellt oder angeordnet worden ist, es sei denn, die Behörde hat die Vollziehung bis zur Unanfechtbarkeit ausgesetzt. Letzteres ist aber gerade nicht der Fall. Die Antragsgegnerin hat für die Aussetzung der Vollziehung ausdrücklich eine andere Dauer anvisiert und sich den jederzeitigen Widerruf der Aussetzung von vorneherein vorbehalten. Die zeitliche Beschränkung der Aussetzung ist zwar möglich und für sich genommen nicht rechtsfehlerhaft, der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibt damit aber, anders als die Antragsgegnerin meint, statthaft (so auch: VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 --, Rn. 20, juris, m.w.N.).

Der von der Antragstellerin begehrten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage fehlt es auch nicht an einem Rechtsschutzbedürfnis, weil die Antragsgegnerin am 28.05.2020 die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt hat. Der Antragstellerin droht aufgrund dessen zwar zunächst kein Vollzug der Abschiebungsanordnung.

Einem Rechtsbehelf fehlt im Einzelfall das Rechtsschutzinteresse aber nur dann, wenn sich dieser für den Antragsteller als überflüssig bzw. sinnlos darstellt, die begehrte gerichtliche Entscheidung für den Antragsteller keine Verbesserung seiner Situation bewirken würde oder ein einfacherer und näherliegender Weg zur Rechtsdurchsetzung gegeben ist. Dies ist hier nicht der Fall. Denn eine gerichtliche Anordnung der aufschiebenden Wirkung versetzt die Antragstellerin auch trotz der behördlichen Außervollzugsetzung in eine vorteilhaftere Rechtsposition.

Ein stattgebender Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist für die Antragstellerin jedenfalls dann von Bedeutung, wenn die Wirkung der behördlichen Aussetzung endet. Sie kann zu diesem Zeitpunkt den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht mehr nachholen, da er dann verfristet ist. Gleichwertiger Rechtsschutz ist auch auf anderem Wege später nicht gesichert zu erlangen. Umfassenden Rechtsschutz bietet allein der sofort und gegebenenfalls zusätzlich gestellte Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO (so auch: VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 -, Rn. 20, juris, m.w.N.; ein Rechtsschutzbedürfnis verneinend: VG Osnabrück, Beschluss vom 12.05.2020 - 5 B 95/20 -, juris; VG Gießen, Beschluss vom 08.04.2020 - 6 L 1015/20.GI.A -, juris).

Das Bundesamt hat indes die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nicht bis zum Abschluss des erstinstanzlichen Hauptsacheverfahrens ausgesetzt, sondern nach der Mitteilung im Schriftsatz vom 28.05.2020 die Vollzugsaussetzung auf den Zeitraum beschränkt, während dem eine Überstellung wegen der pandemiebedingten Weigerung des Dublin-Staates Italien zur Übernahme der Antragstellerin vorübergehend unmöglich ist. Auch hat sich das Bundesamt ausdrücklich den jederzeitigen Widerruf der Aussetzungsentscheidung vorbehalten.

Die behördliche Aussetzung bleibt damit in ihrer Wirkung deutlich hinter einem stattgebenden gerichtlichen Antrag zurück. Zwar kann auch eine Anordnung nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit, auch von Amt wegen nach § 80 Abs. 7 VwGO, vom Gericht abgeändert werden und bietet keinen gesicherten Abschiebungsschutz bis zum in § 80b VwGO festgelegten Zeitpunkt, jedoch ist die Aufhebung durch ein unabhängiges Gericht in einem festgelegten Verfahren mit Verfahrensgarantien, insbesondere Anhörungspflicht für den Betroffenen als ungleich weniger kritisch und deutlich unwahrscheinlicher anzusehen als die jederzeit und ohne Einschränkung mögliche Aufhebung durch die (Vollzugs-)Behörde. Das gilt hier umso mehr, als die Antragstellerin die Aussetzung der Abschiebung aufgrund der von ihr vorgetragenen familiären Gründe bzw. den allgemeinen lagebedingten Gründen fordert, das Bundesamt die Aussetzung aber nur aufgrund der aktuellen Lage im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie erklärt hat und damit zu erwarten ist, dass es zu einem Widerruf kommt, sobald sich die Pandemie-Lage beruhigt hat. Für sein eigentliches Begehren würde der Antragstellerin ohne ein paralleles Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO der Rechtsschutz abgeschnitten werden, dieser jedenfalls unzumutbar erschwert werden (so auch: VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 -, a.a.O., Rn. 23).

Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg. [...]

Denn die Abschiebungsanordnung ist bereits unter dem Gesichtspunkt der tatsächlichen Durchführbarkeit einer Abschiebung nach Italien offensichtlich rechtswidrig. [...]

Die Annahme, dass eine Abschiebung im Sinne von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG durchgeführt werden kann, setzt daher die zuverlässige Prognose voraus, dass eine Überstellung des Antragstellers an den ersuchten Mitgliedstaat in überschaubarer Zukunft tatsächlich möglich ist. Abschiebungsanordnungen sollen nicht auf Vorrat ausgesprochen werden, sondern als Akt der Verwaltungsvollstreckung Grundlage für eine zügige Überstellung der Antragsteller in den Zielstaat der Abschiebung sein. Damit unvereinbar ist der Erlass einer Abschiebungsanordnung, deren tatsächlicher Vollzug in zeitlicher Hinsicht völlig ungewiss ist (so auch: VG Kassel, Beschlüsse vom 18.03.2020 - 2 L 295/20.KS.A - und vom 28. Januar 2016 - 3 L 11/16.KS.A -; VG Hannover, Beschluss vom 27. März 2017 - 10 A 375/16 -, VG Lüneburg, Urteil vom 24. Februar 2016 - 6 A 300/15 -; VG Göttingen, Beschluss vom 18. Februar 2016 - 4 B 61/16 -; VG Göttingen, Beschluss vom 12. Januar 2016 - 2 B 295/15 -, VG Köln, Urteil vom 22. Dezember 2015 - 2 K 6214/14.A -, VG Oldenburg, Urteil vom 19. Juni 2015 - 13 A 1294/15 -, jeweils juris).

So liegt der Fall hier, da eine Prognose, dass die Antragstellerin in überschaubarer Zukunft nach Italien überstellt werden kann, nicht verlässlich getroffen werden kann. [...]

Zwar war die Stornierung von Überstellungen nach Italien durch die Antragsgegnerin in Reaktion darauf zunächst nur bis zum 31. März 2020 angeordnet worden. Das Gericht sieht es jedoch als ausgeschlossen an, dass der italienische Staat von seiner Proklamation, Rückführungen nach Italien bis auf weiteres auszusetzen, in absehbarer Zeit wieder abrücken wird und auf diese Weise die Möglichkeit eröffnet, Rückführungen nach Italien wieder durchführen zu können. Diese Annahme erscheint unrealistisch, nachdem zwischenzeitlich in Italien eine krisenhafte Zuspitzung der Lage eingetreten ist, die dort massenhafte Ausbreitung des sog. Corona-Virus das öffentliche Leben zwischenzeitlich nahezu vollständig zum Erliegen gebracht hat und dieses sich nach allgemeinem Informationsstand erst nach und nach wieder normalisiert.

Dies gilt auch, soweit man im Rahmen der Prognose auf den in der Rechtsprechung teilweise für maßgeblich erachteten Zeitraum des Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO abstellt, wonach die zeitliche Vorgabe des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO von sechs Monaten mit den Regelungen des § 77 Abs. 1 AsylG und des § 34a Abs. 1 AsyIG dadurch in Übereinstimmung zu bringen sei, dass im maßgeblichen Zeitpunkt nicht nur eine grundsätzliche Aufnahmebereitschaft des Ziellandes vorliegen muss, sondern auch die Prognose noch gültig ist, dass die Abschiebung innerhalb dieser Frist von (grundsätzlich) sechs Monaten realisiert werden kann (so: VG Ansbach, Beschluss vom 25.05.2020 - AN 17 S 20.50147 -, a.a.O., Rn. 39 - 40, m.w.N.). Es kann momentan nicht davon ausgegangen werden, dass Überstellungen nach Italien alsbald oder auch innerhalb von sechs Monaten wieder möglich sein werden. Dies ist auch seitens der Antragsgegnerin nicht nachvollziehbar dargelegt worden. [...]