VG Mainz

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Zitieren als:
VG Mainz, Urteil vom 25.05.2020 - 4 K 594/19.MZ - asyl.net: M28599
https://www.asyl.net/rsdb/M28599
Leitsatz:

Zweifel bei der Auslegung einer vorformulierten Verpflichtungserklärung gehen zu Lasten der Behörde:

"1. Bei der Auslegung einer Verpflichtungserklärung im Sinne des § 68 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ist grundsätzlich auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen, wie also der Empfänger der Erklärung den erklärten Willen bei objektiver Würdigung verstehen musste (Rn. 27).

2. Ausnahmsweise sind abweichende Auslegungsgrundsätze und ein veränderter Auslegungshorizont jedoch dann zugrunde zu legen, wenn die Erklärung auf einem von der die Erklärung entgegennehmenden Behörde verwendeten vorformulierten Vordruck abgegeben wird oder – entsprechend der Vorgabe der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz – sogar abgegeben werden muss. In diesem Fall ist weniger auf den Empfänger, sondern vielmehr auch darauf abzustellen, wie der Erklärende die Eintragungen in dem Formular bei objektiver Würdigung hat verstehen dürfen. Verbleiben insoweit Zweifel oder Unklarheiten, gehen diese zu Lasten des Formularverwenders (Rn. 27).

3. Zur Auslegung der Formulierung "max. 3 Monate" im Sinne einer wirksamen Beschränkung der Verpflich­tung auf die Gültigkeitsdauer eines Besuchsvisums (Rn. 28)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Verpflichtungserklärung, Besuchsvisum, Schengen-Visum, Asylantrag, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Sozialleistungen, Haftung, Auslegung,
Normen: AufenthG § 68 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

22 Rechtsgrundlage für die Erstattungsforderung des Beklagten bildet § 68 Abs. 1 Satz 1 bis 3 des Gesetzes über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet – Aufenthaltsgesetz, AufenthG – i.V.m. § 68a Satz 1 AufenthG. [...]

25 Der Kläger hat vorliegend am 11. Juni 2015 eine wirksame Verpflichtungserklärung abgegeben. Die von ihm eigenhändig unterzeichnete Erklärung entspricht dem Schriftformerfordernis nach § 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. § 126 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB –. [...]

26 Der Umfang dieser Verpflichtung schließt jedoch die von der Beklagten mit Bescheid vom 30. Mai 2017 geltend gemachten Kosten nicht ein. Denn die Verpflichtungserklärung kann nicht so verstanden werden, dass sie den Zeitraum seit der Zuweisung der Schwester des Klägers zur Beklagten Ende Januar bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Mai 2017, für den die Beklagte Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz gewährt hat, erfasst. Vielmehr ist im vorliegenden Fall davon auszugehen, dass die Verpflichtungserklärung lediglich den Zeitraum von der Einreise der Schwester des Klägers bis zum Ende des Kurzaufenthaltsvisums, nämlich einen Zeitraum von maximal drei Monaten umfasst. [...]

27 Als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung bedarf die abgegebene Verpflichtungserklärung, insbesondere was ihren zeitlichen Umfang betrifft, der Auslegung in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB unter Würdigung der der Abgabe der Erklärung zugrundeliegenden Umstände des Einzelfalls (BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 – 1 C 33/97 –, BVerwGE 108, 1-21, juris Rn. 29, 34). Hierbei ist grundsätzlich auf den objektiven Empfängerhorizont abzustellen, wie also der Empfänger der Erklärung den erklärten Willen bei objektiver Würdigung verstehen musste. Ausnahmsweise sind abweichende Auslegungsgrundsätze und ein veränderter Auslegungshorizont jedoch dann zugrunde zu legen, wenn die Erklärung auf einem von der die Erklärung entgegennehmenden Behörde verwendeten vorformulierten Vordruck abgegeben wird oder – entsprechend der bindenden Vorgabe in Ziffer 68.2.1.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz – AVwV-AufenthG – sogar abgegeben werden muss. In diesem Fall ist weniger auf den Empfänger, sondern vielmehr auch darauf abzustellen, wie der Erklärende die Eintragungen in dem Formular bei objektiver Würdigung hat verstehen dürfen. Verbleiben insoweit Zweifel oder Unklarheiten, gehen diese zu Lasten des Formularverwenders (VGH BW, Urteil vom 27. Februar 2006 – 11 S 1857/05 –, juris Rn. 33; OVG Nds, Urteil vom 3. Mai 2018 – 13 LB 2/17 –, juris Rn. 33; Beschluss vom 5. Juni 2007 – 11 LC 88/06 –, juris Rn. 6; BayVGH, Urteil vom 26. April 2012 – 10 B 11.2838 –, juris Rn. 27; OVG Schleswig-Holstein, Urteil vom 7. August 2013 – 4 LB 14/12 –, juris Rn. 34; Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, Stand April 2017, § 68 Rn. 20). Dieser modifizierte Maßstab ist auch vorliegend anzulegen, da der Kläger die Verpflichtungserklärung auf einem entsprechenden Vordruck abgegeben hat.

28 Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze und der Begleitumstände des konkreten Falles ist hinsichtlich des zeitlichen Umfangs die Verpflichtungserklärung des Klägers so auszulegen, dass sich diese lediglich auf den im Formular angegebenen Zeitraum von "maximal drei Monaten" seit Einreise erstreckt.

29 Es entspricht zwar der ständigen Rechtsprechung, dass der Geltungsdauer des Visums grundsätzlich keine Bedeutung für den Umfang der Verpflichtungserklärung zukommt und die Haftung auch über die Geltungsdauer des Visums hinaus fortwirkt (vgl. etwa OVG RP, Urteil vom 23. Juli 2015 – 7 A 11145/14 –, juris Rn. 21, 22; VG Trier, Urteil vom 5. Juni 2012 – 1 K 1591/11.TR –, juris Rn. 31 ff.). Dem dort angeführten Argument, dass eine zeitliche Beschränkung der Verpflichtungserklärung auf die Dauer des erteilten Visums und damit einen von vornherein festgelegten Zeitraum mit dem beabsichtigten Zweck einer Verpflichtungserklärung nicht vereinbar wäre, kann hier aber schon deshalb keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen, weil diese Sichtweise einseitig auf den (Empfänger-)Horizont der Behörde und nicht, wie vorliegend geboten, entscheidend darauf abstellt, wie der Erklärende die Eintragungen in dem von ihm unterzeichneten Formular unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände verstehen durfte (BayVGH, Urteil vom 26. April 2012 – 10 B 11.2838 –, juris Rn. 36).

30 Die Möglichkeit einer Beschränkung der Dauer der Verpflichtungserklärung wird in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorausgesetzt. Die Rechtsordnung überlässt es nämlich der Entscheidung des Einzelnen, ob und in welchem Umfang er für den Unterhalt eines Ausländers im Bundesgebiet aufkommen und damit die Voraussetzungen für dessen Aufenthalt schaffen will. Dementsprechend ist im Wege der Auslegung der jeweiligen Verpflichtungserklärung konkret zu bestimmen, für welchen Aufenthaltszweck und welche (Gesamt-)Aufenthaltsdauer sie gelten soll (BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 – 1 C 33/97 –, BVerwGE 108, 1-21, Rn. 34; Beschluss vom 18. April 2018 – 1 B 6/18 –, juris Rn. 7). [...]