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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 20.05.2020 - 1 C 11.19 - asyl.net: M28610
https://www.asyl.net/rsdb/M28610
Leitsatz:

Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes bei schlechten humanitären Bedingungen und innerstaatlichem bewaffneten Konflikt:

"1. Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung wegen der schlechten humanitären Situation im Herkunftsland begründet nur dann einen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, wenn sie zielgerichtet von einem Akteur im Sinne des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG ausgeht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 13).

2. Für eine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG muss die willkürliche Gewalt beim Fehlen individueller gefahrerhöhender Umstände ein besonders hohes Niveau für die Zivilbevölkerung erreichen. Hierzu bedarf es Feststellungen zur Gefahrendichte, die neben einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos auch eine wertende Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit des Ausländers umfassen (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33, vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 58 Rn. 22 f. und vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 14 Rn. 24, jeweils zu der wortgleichen Vorgängernorm des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.; BVerwG, Beschluss vom 8. März 2018 - 1 B 7.18 - juris Rn. 3)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Somalia, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, willkürliche Gewalt, Somalia, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Verfolgungsdichte, Gefahrendichte, ernsthafter Schaden, quantitativer Ansatz, qualitativer Ansatz, wertende Gesamtbetrachtung,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG Abs. 1 S. 2 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

9 1. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Somalia wegen der schlechten humanitären Situation kein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG (Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung) droht, weil es an einem Akteur i.S.d. § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG fehlt, von dem zielgerichtet eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung ausgeht, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.

10 a) Für die Kriterien einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ist - wie bei § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK - aufgrund weitgehend identischer sachlicher Regelungsbereiche (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 36) auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK zurückzugreifen. Danach haben die sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Abschiebezielstaat weder notwendig noch ausschlaggebenden Einfluss auf die Frage, ob eine Person tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein (EGMR, Urteile vom 28. Juni 2011 - Nr. 8319/07 und 11449/07, Sufi und Elmi - Rn. 278 und vom 29. Januar 2013 - Nr. 60367/10, S.H.H. - Rn. 74). [...]

11 [...] Vielmehr muss eine den subsidiären Schutz begründende Gefahr eines ernsthaften Schadens in Form von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 3 AsylG stets von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG ausgehen (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15.12 - BVerwGE 146, 12 Rn. 29 und Beschluss vom 13. Februar 2019 - 1 B 2.19 - juris Rn. 6).

12 In der Rechtsprechung des EuGH ist geklärt, dass der mit § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG wortgleiche Art. 15 Buchst. b Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU) dahingehend auszulegen ist, dass es einer direkten oder indirekten Aktion eines Akteurs bedarf, die die unmenschliche Lebenssituation im Sinne einer Zurechenbarkeit, die jenseits nicht intendierter Nebenfolgen ein auf die bewirkten Effekte gerichtetes Handeln oder gar Absicht erfordert, zu verantworten hat. [...]

14 c) In Anwendung dieser Grundsätze hat das Verwaltungsgericht stichhaltige Gründe für die Annahme eines ernsthaften Schadens i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG allein infolge der schlechten humanitären Situation in Somalia verneint, weil diese nicht zielgerichtet von einem Akteur ausgeht. Dabei ist es in tatsächlicher Hinsicht davon ausgegangen, dass Somalia geprägt ist von einem jahrelangen bewaffneten Konflikt zwischen der Al Shabaab einerseits und den somalischen Regierungstruppen und deren Verbündeten andererseits. Die dadurch kausal herbeigeführte Verschlechterung der Lebensbedingungen für die somalische Zivilbevölkerung hat es aber "nur" als Kollateralschaden des intensiven Bürgerkrieges bewertet. Maßnahmen der Al Shabaab und der Behörden, die sich auf die humanitäre Lage auswirkten, zielten nicht auf eine Verschlechterung der Lebensbedingungen der Zivilbevölkerung ab, sondern seien Mittel zum Zweck im Kampf um die Vorherrschaft. Selbst wenn man in diesen Handlungen eine zielgerichtete Verschlechterung der humanitären Lage sehen würde, wäre dieser Einfluss relativ gering, weil der bewaffnete Konflikt der maßgebliche Grund für die schlechten Lebensbedingungen sei und die zielgerichtete Verschlechterung nur einen Teilgrund bildete. [...]

16 2. Die Klägerin erfüllt auch nicht die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. [...]

18 b) Zutreffend ist das Verwaltungsgericht weiter davon ausgegangen, dass sich eine erhebliche individuelle Gefahr für Leib und Leben i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG auch aus einer allgemeinen Gefahr für eine Vielzahl von Personen im Rahmen eines - vom Verwaltungsgericht zugunsten der Klägerin unterstellten - bewaffneten Konflikts ergeben kann, wenn sich die Gefahr in der Person des Ausländers verdichtet.

19 Nach der Rechtsprechung des EuGH bezieht sich das Erfordernis einer ernsthaften individuellen Bedrohung infolge willkürlicher Gewalt auf schädigende Eingriffe, die sich gegen Zivilpersonen ungeachtet ihrer Identität richten, wenn der den bestehenden bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt ein so hohes Niveau erreicht, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass eine Zivilperson bei Rückkehr in das betreffende Land oder gegebenenfalls die betroffene Region allein durch ihre Anwesenheit im Gebiet dieses Landes oder dieser Region tatsächlich Gefahr liefe, einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt zu sein (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - C-465/07, Elgafaji - Rn. 35). Mit Blick auf den 26. Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2011/95/EU), wonach Gefahren, denen die Bevölkerung oder eine Bevölkerungsgruppe eines Landes allgemein ausgesetzt sind, für sich genommen "normalerweise" keine individuelle Bedrohung darstellen, "die als ernsthafter Schaden zu beurteilen wäre", den subsidiären Charakter des in Frage stehenden Schadens und die Systematik des Art. 15 Richtlinie 2004/83/EG (inzwischen: Richtlinie 2011/95/EU), bei dem die unter Buchstabe a und b definierten Schäden einen klaren Individualisierungsgrad voraussetzen, bleibt dies allerdings einer außergewöhnlichen Situation vorbehalten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass die fragliche Person dieser Gefahr individuell ausgesetzt wäre (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - C-465/07, Elgafaji - Rn. 36 ff.). Dies präzisiert der EuGH dahin, dass der Grad willkürlicher Gewalt, der vorliegen muss, damit der Antragsteller Anspruch auf subsidiären Schutz hat, umso geringer sein wird, je mehr er möglicherweise zu belegen vermag, dass er aufgrund von seiner persönlichen Situation innewohnenden Umständen spezifisch betroffen ist (EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - C-465/07, Elgafaji - Rn. 39). Geht aufgrund des in Somalia herrschenden bewaffneten Konflikts in der Region Mogadischu für eine Vielzahl von Zivilpersonen eine allgemeine Gefahr aus, muss sich diese für einen Anspruch der Klägerin auf Gewährung subsidiären Schutzes folglich in ihrer Person so verdichten, dass sie für diese eine erhebliche individuelle Gefahr i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG darstellt.

20 Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen ergeben. Dazu gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen - z.B. als Arzt oder Journalist - gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Zu berücksichtigen sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte - etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit - ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33). [...]

21 Eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr kann ausnahmsweise auch in Fällen, in denen - wie hier - individuelle gefahrerhöhende Umstände fehlen, bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 - 10 C 9.08 - BVerwGE 134, 188 Rn. 15 mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 17. Februar 2009 - C-465/07, Elgafaji). Liegen keine gefahrerhöhenden Umstände vor, ist ein besonders hohes Niveau willkürlicher Gewalt erforderlich (BVerwG, Urteil vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33). Zur Bestimmung der hierfür erforderlichen Gefahrendichte bedarf es nach der Rechtsprechung des Senats - in Anlehnung an die von ihm zur Feststellung einer Gruppenverfolgung im Bereich des Flüchtlingsrechts entwickelten Grundsätze (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243 Rn. 20 ff.) - zunächst einer annäherungsweise quantitativen Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos und auf deren Grundlage einer wertenden Gesamtschau zur individuellen Betroffenheit des Ausländers (vgl. BVerwG, Urteile vom 27. April 2010 - 10 C 4.09 - BVerwGE 136, 360 Rn. 33, vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 - Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u Asylrecht Nr. 58 Rn. 22 f. und vom 13. Februar 2014 - 10 C 6.13 - Buchholz 402.25 § 33 AsylVfG Nr. 14 Rn. 24, jeweils zu der wortgleichen Vorgängernorm des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG a.F.; BVerwG, Beschluss vom 8. März 2018 - 1 B 7.18 - juris Rn. 3). Dieser "quantitative" Ansatz in der Rechtsprechung des Senats unterscheidet sich im Ergebnis allenfalls graduell von der teilweise vertretenen Gegenposition, wonach es einer rein qualitativen Betrachtung bedürfe (vgl. etwa Dietz, NVwZ-Extra 24/2014). Denn er zielt nicht auf einen gar höchstrichterlich auf alle Konfliktlagen anzuwendenden "Gefahrenwert" im Sinne einer zwingend zu beachtenden mathematisch-statistischen Mindestschwelle, sondern lässt durch das Erfordernis einer abschließenden Gesamtbetrachtung ausreichend Raum für qualitative Wertungen; auch die Gegenposition kommt bei ihrer rein qualitativen Betrachtung letztlich nicht ohne einen Rückgriff auf das reale Verfolgungsgeschehen aus (vgl. Berlit, ZAR 2017, 110).

22 Ob insoweit mit Blick auf die Rechtsprechung in anderen europäischen Staaten und einen dies aufgreifenden Vorlagebeschluss des VGH Mannheim zu den unionsrechtlichen Kriterien, nach denen das Vorliegen einer ernsthaften individuellen Bedrohung zu beurteilen ist (VGH Mannheim, Vorlagebeschluss vom 29. November 2019 - A 11 S 2374/19 u.a. - juris mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung anderer Mitgliedstaaten), eine weitere Klärung durch den EuGH zu erwarten ist, kann vorliegend indes dahinstehen. Denn das Verwaltungsgericht ist im Wege einer Gesamtbetrachtung zu dem Ergebnis gekommen, dass das Ausmaß der allgemeinen Gefahr in Mogadischu - unabhängig von einer quantitativen Relationsbetrachtung - nicht die erforderliche Gefahrendichte aufweist. [...]