VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 16.06.2020 - 25 L 118/20.A (Asylmagazin 8/2020, S. 279) - asyl.net: M28628
https://www.asyl.net/rsdb/M28628
Leitsatz:

Kein Eilrechtsschutz während behördlicher Aussetzung der Vollziehung der Dublin-Überstellung wegen Corona-Pandemie:

1. Einem Eilrechtsantrag mit dem Ziel, den Dublin-Bescheid wegen Ablaufs der Überstellungsfrist aufzuheben, fehlt das Rechtsschutzbedürfnis, wenn die Behörde die Vollziehung der Überstellungsentscheidung im Hinblick auf die Corona-Pandemie "bis auf weiteres" ausgesetzt hat und diese Entscheidung noch nicht widerrufen wurde.

2. Das Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich nicht daraus, dass Betroffene mit einer gerichtlichen Aussetzungsentscheidung mehr Rechte erwerben können als mit einer behördlichen, wenn diese Rechte nur vage und mittelbar in Aussicht stehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Aussetzung der Vollziehung, Abschiebungsanordnung, Dublinverfahren, Suspensiveffekt, Rechtsschutzinteresse, Überstellungsfrist, Aussetzung des Verfahrens, Corona-Virus, Dublinverfahren, Fristablauf,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 Bst. a, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5,
Auszüge:

[...]

Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist bereits unzulässig, weil für den Antragsteller diesbezüglich kein Rechtsschutzbedürfnis besteht. Dies folgt aus dem Umstand, dass das Bundesamt den Vollzug der streitgegenständlichen Abschiebungsanordnung bereits nach § 80 Abs. 4 VwGO ausgesetzt und mithin eine Lage geschaffen hat, die dem Schutz einer gerichtlichen Aussetzung entspricht (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier 37. EL Juli 2019, VwGO § 80 Rn. 277 m.w.N). Das Gericht kann vor diesem Hintergrund und mit Blick auf das weitere Vorbringen auch nicht erkennen, dass der Antragsteller durch eine gerichtliche Aussetzung noch ein "Mehr" erreichen könnte.

Soweit er diesbezüglich anführt, dass die Aussetzung des Bundesamts unter einen Widerruf erfolgte, ist ihm entgegenzuhalten, dass auch das Gericht einen eigenen Beschluss nach § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO jederzeit ändern kann. Ferner würde er auch - entgegen seiner Ansicht - durch eine stattgebende Entscheidung des Gerichts keinen Rechtsanspruch auf eine Beschäftigungserlaubnis nach § 61 AsylG erwerben: Die Vorschrift knüpft nur mittelbar an stattgebende Eilentscheidungen in Dublin-Verfahren an, indem sie einen gebundenen Anspruch auf Erteilung einer Beschäftigungserlaubnis ausnahmsweise zulässt (vgl. § 61 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AsylG), soweit daneben eine Reihe weiterer Voraussetzungen erfüllt sind·(vgl. § 61 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG). Eine derart vage und nur mittelbare Aussicht auf eine unter Umständen mögliche Besserstellung begründet jedoch hier noch kein Rechtsschutzbedürfnis, weil weder vorgetragen noch ersichtlich ist, dass die sonstigen Voraussetzungen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erfüllt sind. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass der Antragsteller überhaupt eine solche Beschäftigung aufnehmen will. Schließlich kann sich der Antragsteller auch nicht darauf berufen, dass er durch eine gerichtliche Entscheidung hinsichtlich der Anrechnung von Voraufenthaltszeiten bessergestellt wäre, weil nur eine gerichtliche Entscheidung ex tunc auf den Erlass des Verwaltungsaktes zurückwirke, denn auch ein stattgebender Beschluss nach § 80·Abs. 7 VwGO wirkt im Falle einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage nur auf den Zeitpunkt zurück, an dem es zur maßgeblichen Änderung gekommen ist (vgl. Schoch, in: Schoch/Schneider/Bier 37. EL Juli 2019, VwGO § 80 Rn. 591). Soweit sich der Antragsteller im Übrigen nach seinem Vorbrlngen hier auf die Anrechnungsregel des § 55 AsylG bezieht, gilt auch nichts anderes, weil danach die Aufenthaltsdauer während des Asylverfahrens für Rechte und Vergünstigungen nur dann anzurechnen ist, wenn der Ausländer unanfechtbar als asyl- oder international schutzberechtigte Person anerkannt wurde (vgl. Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 55 AsylG Rn. 16). Dies ist derzeit jedoch völlig offen. [...]