Kein allgemeines Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG wegen der aktuellen Covid-19-Pandemie in Afghanistan.
(Amtlicher Leitsatz)
[...]
Unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnismittel Gericht in der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte nach wie vor davon aus, dass vor allem für alleinstehende, aus dem europäischen Ausland zurückkehrende und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen - mitunter auch ohne familiären Rückhalt - die Möglichkeit gegeben ist, als Tagelöhner wenigstens das Überleben zu sichern (vgl. OVG NRW, Urteile vom 3. März 2016 - 13 A 1828/09.A - und vom 26. August 2014 - 13 A 2998/11.A - sowie Beschluss vom 26. Oktober 2010 - 20 A 964/10.A -; BayVGH, Urteile vom 14. Januar 2015 - 13a ZB 14.30410 -, vom 30. Januar 2014 - 13a B 13.30279 - und vom 8. November 2012 - 13a B 11.30391 -; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 21. März 2012 - 8 A 11050/10 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 6. März 2012 - A 11 S 3177/11 -; OVG Schleswig, Urteil vom 10. Dezember 2008 - 2 LB 23/08 -; jeweils zitiert nach juris; siehe auch UNHCR - Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 19.04.2016, dort S. 10, www.refworld.org /docid/570f96564.html; siehe zudem UNHCR - Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, 30.08.2018, S. 125; vgl. ferner OVG NRW, Urteile vom 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris, und – 13 A 3741/18.A –, juris; Niedersächsisches Oberverwaltungsgericht (OVG NDS), Urteil vom 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris; Verwaltungsgerichtshof Hessen (VGH Hessen), Urteil vom 23. August 2019 – 7 A 2750/15.A –, juris; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (VGH BW), Urteil vom 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 –, juris).
Eine extreme Gefahrenlage kann sich jedoch für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen mit und ohne Kinder, Familien mit Kleinkindern und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen, ergeben (vgl. etwa aus der Rechtsprechung des VG Augsburg: Urteile vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30234 - (Rückkehrgefahren wegen langjährigen Aufenthalts im Iran und Schussverletzung); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30233 - (jugendliches Alter; gesamtes Leben im Iran verbracht); vom 23. Januar 2013 - Au 6 K 12.30232 - (Rückkehrgefahren für junge Frau); vom 9. Januar 2013 - Au 6 K 12.30127 - (Rückkehrgefahren bei Rückkehr eines Minderjährigen nach Kabul); vom 26. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30425 - (keine eigenständige Sicherung des Existenzminimums für Minderjährigen), vom 11. Oktober 2012 - Au 6 K 12.30100 - (18-jährig, in schlechter psychischen Verfassung und ohne Erfahrungen im Berufsleben), vom 10. Oktober 2012 - Au 6 K 11.30359 - (alleinstehende, ältere Frau); vom 13. März 2012 - Au 6 K 11.30402 - (Rückkehr angesichts des Alters, 63 und 59 Jahre, und des Gesundheitszustandes nicht zumutbar), vom 11. Januar 2012 - Au 6 K 11.30309 - (vierköpfige Familie mit zwei Kindern im Alter von zwölf und vierzehn Jahren), vom 24. November 2011 - Au 6 K 11.30222 - (Familienverband mit vier kleinen Kindern) und vom 16. Juni 2011 - Au 6 K 11.30153 - (Familie mit zwei Kindern).
In der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte ist davon auszugehen, dass die Rückkehrsituation, die ein Rückkehrer vorfindet, wesentlich davon mitbestimmt wird, ob er sich auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen kann, oder ob er auf sich allein gestellt ist. Je stärker noch die soziale Verwurzelung des Rückkehrers oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen ist, desto leichter und besser kann er sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls ein Existenzminimum sichern (vG Augsburg, Urteil vom 23. Januar 2013 – Au 6 K 12.30233 –, Rn. 22, juris). [...]
bb) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG besteht für den Kläger auch nicht allein aufgrund der derzeit weltweit und damit auch in Afghanistan grassierenden Covid-19-Pandemie. Denn zunächst handelt es sich dabei um eine allgemeine Gefahr, die allen Menschen in Afghanistan und allen Rückkehrern dorthin droht und damit grundsätzlich nur im Rahmen eines Einreisestopps nach § 60a Abs. 1 S. 1 AufenthG Berücksichtigung finden darf, vgl. § 60 Abs. 7 S. 6 AufenthG.
Dass darüber hinaus wegen der Covid-19-Pandemie von einer im Rahmen von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beachtlichen individuellen Extremgefahr für den Kläger auszugehen ist, kann das Gericht jedenfalls für die Provinz Ghazni nicht erkennen. Ausweislich der "Timeline of the COVID-19 Pandemic in Afghanistan" (siehe dazu en.wikipedia.org /wiki/Timeline_of_the_COVID-19_pandemic_in_Afghanistan) hat es am 11.05.2020 in Afghanistan 4.963 und am 25.05.2020 11.831 bestätigte COVID-19 Infektionen gegeben. Dabei sind für die Region Maydan-Wardak 211 Fälle bestätigt worden (Stand: 28.05.2020) (siehe dazu "COVID-19 pandemic in Afghanistan", en.wikipedia.org/wiki/COVID-19_pandemic_in_Afghanistan; "Current Cases of COVID-19", tolonews.com/covid-19-tracker).
Angesichts einer Einwohnerzahl in der Provinz Ghazni von 1.315.041 Einwohnern (s.o. Nachweise unter 2. b)) liegt damit zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nur eine sehr geringe Anzahl an Infektionen in der Heimatregion des Klägers vor. Eine für den Kläger beachtliche Extremgefahr ist damit bei einer Rückkehr in seine Heimatprovinz nicht gegeben. [...]