VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 15.06.2020 - 12 S 1163/20 - asyl.net: M28663
https://www.asyl.net/rsdb/M28663
Leitsatz:

Geographischer Geltungsbereich eines Reiseausweises für Flüchtlinge auch für Herkunftsland:

Gewährung von Prozesskostenhilfe zur Klärung der Frage, ob eine Person, die als Flüchtling anerkannt wurde, ausnahmsweise einen Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Flüchtlinge hat, dessen geografischer Geltungsbereich ihren Herkunftsstaat, in dem ihr Verfolgung droht, umfasst.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Reiseausweis für Flüchtlinge, geografische Geltung, Herkunftsstaat, Prozesskostenhilfe, Irak, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, Verfolgerstaat, geografische Beschränkung,
Normen: GFK Art. 28, RL 2011/95 Art. 25
Auszüge:

[...]

b) Die relativ vage Formulierung in § 4 des Anhangs zur Genfer Flüchtlingskonvention überlässt es regelmäßig dem ausstellenden Staat, die größtmögliche Anzahl von Ländern zu bestimmen, für welche das Reisedokument Gültigkeit haben soll (Zimmermann, The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, p. 1208, IV, Rn. 76). Das Verwaltungsgericht hat zutreffend ausgeführt, dass es einer weit verbreiteten Staatenpraxis entspricht, den Herkunftsstaat des Flüchtlings von der geographischen Geltung auszunehmen (Zimmermann, a.a.O.; Hathaway, The Rights of Refugees under International Law, 2005, p. 858 f.; UNHCR, Note on follow-up to the earlier Conclusion of the Executive Committee on Travel Documents for Refugees, 3 July 1987, EC/SCP/48, 8). Nach einer Erhebung des European Council on Refugees and Exiles vom Oktober 2016 (https://www.ecre.org/wp-content/uploads/2016/10/AIDA-Brief-Travel-Documents.pdf) stellen unter der Geltung der Richtlinie 2011/95 zwanzig europäische Staaten den Reiseausweis für Flüchtlinge so aus, dass der Herkunftsstaat bzw. Verfolgerstaat von der Geltung des Reiseausweises für Flüchtlinge ausgenommen wird.

Unabhängig von der Staatenpraxis ist aber wohl völkerrechtlich auch anerkannt, dass der Reiseausweis für Flüchtlinge nach der Genfer Flüchtlingskonvention - im Unterschied zu früheren internationalen Vertragswerken - nicht seine Gültigkeit verliert, wenn der Inhaber des Ausweises in seinen Herkunftsstaat einreist (Grahl-Madsen, Commentary on the Refugee Convention, 1997, Art. 28, Schedule, Paragraph 4; Zimmermann, The 1951 Convention Relating to the Status of Refugees and its 1967 Protocol, p. 1208, IV, Rn. 77). Zu § 4 des Anhangs wird zudem die Auffassung vertreten, dass in den Fällen, in denen der Flüchtling besondere Gründe hat, die einen Besuch in seinem Herkunftsstaat rechtfertigen, und die nicht die Frage nach der Beendigung des Flüchtlingsstatus aufwerfen, der den Reiseausweis für Flüchtlinge ausstellende Staat diese Gründe anerkennen kann, in dem er möglicherweise zeitlich befristet diese geographische Beschränkung in dem Reisedokument aufhebt oder ein Reisedokument ohne die Herausnahme des Herkunftsstaats ausstellt (Zimmermann, a.a.O.). [...]

Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung über die geographische Geltung des Reiseausweises für Flüchtlinge existiert im nationalen Recht nicht. [...]

Unionsrechtlich, möglicherweise aber auch allein völkerrechtlich (vgl. oben unter 1 b), könnte es im Ermessen des Beklagten stehen, einen Reiseausweis für Flüchtlinge ohne die Herausnahme des Irak auszustellen, ggfs. solches für einen vorübergehenden Zeitraum vorzusehen. Nimmt man dies an, sind die bislang seitens des Beklagten allein unter Berufung auf Nr. 3.3.4.4 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz vom 26.10.2009 angestellten Erwägungen nicht tragfähig.

Im Rahmen einer dem Beklagten obliegenden Ermessensentscheidung, ob der Irak (temporär) als Einschränkung der geographischen Geltung des Reiseausweises für Flüchtlinge im Einzelfall entfällt, dürften die auf Seiten des Schutzsuchenden hierfür geltend gemachten Gründe mit dem ihnen zukommenden Gewicht einzustellen sein. Hierbei dürfte die Dringlichkeit der humanitären Gründe für eine besuchsweise Einreise in den Nordirak ein relevanter Gesichtspunkt sein. Diese bedürften im vorliegenden Fall näherer Aufklärung. [...]