Zum zulässigen Beginn der Ausreisefrist nach der Rückführungsrichtlinie:
"1. Den Konflikt zwischen der von Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL geforderten umfassenden Suspendierung der Rückkehrentscheidung und der bloßen Vollzugshemmung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG kann das Bundesamt nur dadurch auflösen, dass es die Vollziehung der Abschiebungsandrohung nach § 80 Abs. 4 VwGO aussetzt.
2. Das Bundesamt verstößt gegen § 36 Abs. 1 AsylG, wenn es den Zeitpunkt der gerichtlichen Ablehnung des Eilantrags als Beginn der Ausreisefrist bestimmt. Das auch im Verfahren nach § 36 Abs. 4 AsylG zu prüfende Erfordernis der subjektiven Rechtsverletzung ist in einem solchen Fall erfüllt, weil das Bundesamt nicht lediglich eine zu lange Ausreisefrist gesetzt, sondern wegen der unterlassenen Aussetzung die subjektiv-öffentliche Garantie eines wirksamen Rechtsbehelfs verletzt hat.
3. Es bestehen ernstliche Zweifel, dass die Vollzugshemmung nach § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG allein genügt, um die von Art. 6 Abs. 6 RückführungsRL verlangte Suspendierung aller Rechtswirkungen der Rückkehrentscheidung zu bewirken. Diese Zweifel kann das Bundesamt nicht dadurch beseitigen, dass es den Beginn der Ausreisefrist auf den Zeitpunkt der ablehnenden gerichtlichen Eilentscheidung verschiebt."
(Amtliche Leitsätze; Entscheidung unter Verweis insbesondere auf BVerwG, Urteil vom 20.02.2020 - 1 C 19.19 - asyl.net: M28424)
[...]
13 [...] Allerdings bestehen erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der gesetzten Frist zur freiwilligen Ausreise, auch in der geänderten Fassung der Nr. 3 des Bescheids (dazu 2.). [...]
19 2. Es sprechen aber erhebliche Gründe dafür, dass die Abschiebungsandrohung im Hinblick auf die gesetzte Ausreisefrist rechtswidrig ist. Denn bei seiner ursprünglichen Fristsetzung hat das Bundesamt die unionsrechtliche Vorgabe missachtet, dass die Entscheidung über den Asylantrag nur mit der Rückkehrentscheidung verbunden werden darf, wenn wirksamer Rechtsschutz gegen die zuletzt genannte Maßnahme eröffnet ist (dazu a)). Die im Gerichtsverfahren erfolgte Änderung der Nr. 3 des Bescheids hat diesen Verstoß nicht beseitigen können (dazu b)). [...]
22 Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht festgehalten, dass ein Verstoß nicht vorläge, wenn die Wirkungen der Rückkehrentscheidung während des gerichtlichen Eilverfahrens vollständig suspendiert würden (U.v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 - juris Rn. 42). Eine solche Situation besteht wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage (§ 75 Abs. 1 Satz 1 AsylG) etwa bei der Ablehnung eines Asylantrags nach § 38 Abs. 1 AsylG (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 1.19 - juris Rn. 19). Der Klage gegen abgelehnte Zweitanträge kommt hingegen keine Wirkung nach § 80 Abs. 1 VwGO zu. Stattdessen gilt § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG, wonach die Abschiebung nicht vollzogen werden darf, wenn ein fristgerechter Eilantrag gestellt wurde. Damit geht dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 20.2.2020 (1 C 19.19 - juris Rn. 39, 42) zufolge aber kein ausreichend umfänglicher Suspensiveffekt einher. Denn § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG bewirkt eine bloße Vollzugshemmung, nicht aber eine umfassende Aussetzung der Vollziehbarkeit, welche nicht nur der Vollstreckung entgegenstünde, sondern sämtlichen Vollziehungsmaßnahmen und Schlussfolgerungen rechtlicher und tatsächlicher Art (vgl. Schoch in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2019, § 80 Rn. 101). Der Charakter als bloße Vollzugshemmung ergibt sich etwa aus Satz 5 des § 36 Abs. 3 AsylG, wonach die gerichtliche Entscheidung binnen einer Woche nach Ablauf der Ausreisefrist ergehen soll. Der Gesetzgeber ist ausweislich dieser Bestimmung erkennbar davon ausgegangen, dass der Eilantrag auf den Ablauf der Ausreisefrist keine Auswirkungen hat und die Vollziehbarkeit der Entscheidung während des gerichtlichen Verfahrens damit nicht gehemmt ist. Vergleichbares lässt sich - auch wenn er sich erkennbar auf Eilrechtsbehelfe gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot bezieht - aus Satz 11 der Vorschrift ableiten, denn auch nach dieser Norm bleibt die Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung unberührt.
23 § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG kann die erforderliche Aussetzung der Vollziehbarkeit auch nicht im Wege unionsrechtskonformer Auslegung beigemessen werden (BVerwG, U.v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 - juris Rn. 46 ff.). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Hinblick auf entsprechende Entscheidungen verschiedener Gerichte festgehalten, dass jede Auslegung ihre Grenze im Wortlaut der Norm und den eindeutigen Absichten des Gesetzgebers finde. Die klar auf eine Vollstreckung bezogene Regelung des § 36 Abs. 3 Satz 8 AsylG könne daher auch vor dem Hintergrund des europarechtlichen Anwendungsvorrangs nicht als Anordnung einer allgemeinen Vollziehbarkeitshemmung begriffen werden. Zur Angleichung der nationalen Regelung an die europäischen Vorgaben seien hier nicht die Gerichte, sondern allein der Gesetzgeber berufen. Im Übrigen enthalte das deutsche Recht keine absolute Pflicht zur Verbindung von Ablehnungsentscheidung und Abschiebungsandrohung. Der unionskonformen Auslegung bedürfe es folglich schon deshalb nicht, weil der Konflikt durch einen Verzicht auf die Verbindung aufgelöst werden könne.
24 Weil der gleichzeitige Anlauf von Ausreise- und Rechtshelfsfrist folglich nicht durch eine umfassende Vollziehbarkeitshemmung kompensiert wurde, verstieß Nr. 3 des angegriffenen Bescheids in seiner ursprünglichen Fassung gegen europäisches Recht. [...]
26 Zwar hat das Bundesverwaltungsgericht dem Bundesamt grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, eine unionsrechtswidrige Fristsetzung noch im Gerichtsverfahren mit Rückwirkung zu korrigieren. Es hat als geeignetes Instrument hierfür aber allein die Aussetzung der Vollziehung nach § 80 Abs. 4 VwGO benannt (U.v. 20.2.2020 - 1 C 19.19 - juris Rn. 54). Nur dadurch lasse sich die umfassende Suspendierung der Rechtswirkungen herbeiführen, die bei einer Verbindung von Sach- und Rückkehrentscheidung unionsrechtlich vorgegeben sei. Die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Änderung der Ausreisefrist hat die Vollziehbarkeit der Rückkehrentscheidung indes nicht aufgehoben. Denn weder hat das Bundesamt die Vollziehung im Sinne des § 80 Abs. 4 VwGO ausdrücklich ausgesetzt, noch lässt sich seiner Einlassung eine entsprechende Absicht entnehmen. Der Wortlaut der Änderung und die zugehörige Begründung machen im Gegenteil deutlich, dass die Antragsgegnerin alleine den Beginn der Ausreisefrist auf den Zeitpunkt der Wirksamkeit der ablehnenden gerichtlichen Entscheidung hinausschieben wollte. An der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme - deren Umdeutung in eine solche nach § 80 Abs. 4 VwGO ebenfalls nicht in Betracht kommt (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2019 - 1 C 15/18 - juris Rn. 50) - erscheint nach nationalem Recht (dazu aa) ebenso ernstlich zweifelhaft wie nach europäischem Recht (dazu bb)). [...]