SG Saarland

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Zitieren als:
SG Saarland, Beschluss vom 22.07.2020 - S 25 AY 15/20 ER - asyl.net: M28673
https://www.asyl.net/rsdb/M28673
Leitsatz:

Keine Leistungskürzung bei fehlender Möglichkeit der Ausreise:

1. Bis zum 01.07.2020 war es wegen der Corona-Pandemie schon faktisch nicht möglich, nach Griechenland auszureisen, um den dort gewährten Schutzstatus in Anspruch zu nehmen.

2. Die Absenkungsregelung des § 1a AsylbLG unterliegt auch verfassungsrechtlicher Kritik.

(Leitsätze der Reaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Asylbewerberleistungsgesetz, internationaler Schutz in EU-Staat, Verfassungsmäßigkeit, Corona-Virus, Suspensiveffekt, tatsächliche Unmöglichkeit, Unmöglichkeit der Ausreise,
Normen: AsylbLG § 1a Abs. 4 S. 2,
Auszüge:

[...]

Daran gemessen war es dem Antragsteller jedenfalls bis zum 01.07.2020 faktisch schon nicht möglich, den ihm durch Griechenland gewährten Asylschutz wahrzunehmen, weil aufgrund der weltweit grassierenden Corona-Pandemie eine Einreise nach Griechenland nicht möglich war. Erst seit dem 01.07.2020 sind die griechischen Flughäfen für internationale Besucher geöffnet, und hätte der Antragsteller wieder die Möglichkeit, in das ihm Schutz gewährende Land zurückzureisen. Insofern erweist sich für diesen Zeitraum die Verfügung des Antragsgegners bereits deshalb als rechtswidrig, weil der Antragsteller aus tatsächlichen Gründen daran gehindert war, die durch § 1a Abs. 4 Satz 2 AsylbLG sanktionierte asyl- bzw. ausländerrechtliche Lage einer unerwünschten europäischen Sekundärmigration wieder zu beseitigen. [...]

c. Die Absenkungsregelung des § 1a AsylbLG unterliegt im Übrigen seit einiger Zeit verfassungsrechtlicher Kritik, soweit in der Rechtsfolge der vollständige Wegfall des notwendigen persönlichen Bedarfs zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums vorgesehen ist (insbes. Brings/Oehl, ZAR 2016, 22; Janda SGb 2018, 344; Kanalan, ZfSH/SGB 2018, 241; Oppermann, ZESAR 2017, 55 <60 f.>; dies. in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1a AsylbLG Rn. 207 ff.; Voigt, info also 2016, 99). Auch wurde schon vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. November 2019 - 1 BvL 7/16 - in der Sanktionierung der Einreise, um Leistungen zu erlangen, eine am Maßstab von BVerfGE 132, 134 verfassungsrechtlich unzulässige Migrationssteuerung gesehen (Voigt, info also 2016, 99 <102>; erwägend SG Münster, Beschluss vom 1. März 2013 - S 12 AY 13/13 ER -, juris Rn. 12 f.) und an der Verfassungskonformität gezweifelt, weil dieser Tatbestand den Betroffenen keine Möglichkeit gibt, ihr Verhalten so zu ändern, dass sie wieder bedarfsdeckende Leistungen erhalten (allgemein Janda, ZAR 2013, 175 <180 f.>; dies erwägend Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 9. Dezember 2013 - L 4 AY 17/13 B ER -, juris Rn. 28; Hessisches Landessozialgericht, Beschluss vom 31. März 2020 - L 4 AY 4/20 B ER -, Rn. 37; 38, juris). Gerade im Hinblick auf die aktuelle Pandemielage muss wegen des grundrechtlichen Gewichts der Leistungen, die die Menschenwürde des Empfängers sichern soll, hier im Rahmen der Abwägungsentscheidung die gesetzgeberische Wertung für die sofortige Vollziehbarkeit zurücktreten. Ein öffentliches Interesse an der Vollziehung eines auf einem verfassungsrechtlich bedenklichen Gesetz beruhenden Verwaltungsaktes ist nicht erkennbar (vgl. SG Oldenburg, Beschluss vom 20. Februar 2020 - S 25 AY 3/20 ER -, Rn. 29 - 31, juris). [...]