VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 27.07.2020 - 10 K 4956/19.TR - asyl.net: M28689
https://www.asyl.net/rsdb/M28689
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für pakistanischen Deserteur:

1. Bei Desertion droht in Pakistan unverhältnismäßige Strafverfolgung bis hin zur Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe. Die Verfahren werden vor Militärgerichten verhandelt, welche rechtsstaatlichen Vorgaben für ein faires Verfahren nicht entsprechen.

2. Einer Person, die nach mehrjähriger Tätigkeit als Berufssoldat in Pakistan und unter Offenlegung ihrer pazifistischen Einstellung desertiert ist, ist die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Pakistan, Militärdienst, Desertion, Wehrdienstverweigerung, politische Verfolgung, Todesstrafe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

Zunächst knüpft die Verfolgung seitens des pakistanischen Staates im gegenständlichen Einzelfall an einen Verfolgungsgrund gern. § 3b Abs. 1 AsylG an. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass die Bestrafung wegen Desertion durch den Heimatstaat grundsätzlich nicht schon für sich allein eine politische Verfolgung begründet, sondern nur dann, wenn besondere Umstände hinzutreten (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 1983 - 9 C 864.80 -, juris). Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Dies ist vorliegende wegen der besonderen Umstände des Einzelfalls gegeben, da der Kläger in der mündlichen Verhandlung überzeugend erläutert hat, dass er mehrfach versucht habe bei der pakistanischen Armee zu kündigen und dabei seine Meinung offenbart habe, dass er gegen die Einsätze und gegen den Krieg sei. Damit und im Zusammenspiel mit seiner Desertion hat er seine politische Opposition zu den Ideologien der pakistanischen Regierung kundgetan und hieran anknüpfende Verfolgungshandlungen zu befürchten.

Für Desertion droht nach den vorliegenden Erkenntnissen in Pakistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung i.S.v. § 3a Abs. 1 Nr. 3 AsylG. Im Militärstrafrecht Pakistans ist u.a. für Fahnenflucht, Feigheit vor dem Feind oder Hilfe zur Fahnenflucht die Todesstrafe vorgesehen (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15). Das Militär verfügt dabei über eine eigene Gerichtsbarkeit. Die Prozesse vor Militärgerichten werden jedoch rechtsstaatlichen Vorgaben an ein faires Verfahren nicht gerecht (vgl. Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Pakistan vom 16. Mai 2019, S. 34). Die verfahrensleitenden Militärs müssen nicht über eine juristische Ausbildung verfügen, die Verfahren müssen nicht öffentlich sein und es ist keine Kaution vorgesehen (vgl. Republik Österreich, a.a.O., S. 34). Augenzeugenberichte werden nicht berücksichtigt und bei berechtigtem Zweifel wird nicht zugunsten der Beschuldigten entschieden. Urteile der militärischen Gerichtsbarkeiten gegen Militärangehörige sind zudem nicht vor zivilen Gerichten anfechtbar (vgl. Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15). Die Todesstrafe wird in Pakistan auch verhängt und vollstreckt. Laut der Angaben des militärischen Pressedienstes von Mitte Dezember 2018 wurden seit Bestehen der Militärgerichte von diesen in 546 abgeschlossenen Fällen 310 Todesurteile verhängt, die in 56 Fällen bereits exekutiert wurden (vgl. Republik Österreich, a.a.O., S. 58, VG Berlin, Beschluss vom 17. September 2018 - 6 L 302.18 A -). Die Gesamtzahl der Insassen im Todestrakt pakistanischer Gefängnisse betrug im Oktober 2018 4.688 Personen (vgl. Republik Österreich, a.a.O., S. 58). Im Falle von Fahnenflucht sucht die örtliche Polizei regelmäßig den Wohnort des Geflohenen auf, um ihn zu verhaften (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 16. März 2020, Az.: 508-9-516.80/52718).

Dem Kläger droht im hiesigen Einzelfall mithin bei Rückkehr in sein Heimatland mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch den pakistanischen Staat. Der Kläger ist nach seinen glaubhaften Angaben in der mündlichen Verhandlung vor einem Einsatz in Waziristan geflohen und hat bei seinen jeweiligen Kündigungen mehrfach geäußert, dass er keinen anderen Menschen töten möchte und den Krieg an sich ablehne. Dadurch hat der Kläger sowohl seine politische Einstellung offenbart, als auch die unter Strafe stehende Fahnenflucht sowie "Feigheit vor dem Feind" verwirklicht und daher eine Strafverfolgung mit unverhältnismäßiger Bestrafung zu befürchten. [...]