VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 03.03.2020 - 7 A 1787/20 - asyl.net: M28690
https://www.asyl.net/rsdb/M28690
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für afghanische Staatsangehörige, die als Minderjährige zwangsverheiratet wurde:

"1. Die Verheiratung einer 12- bis 13-Jährigen verstößt bereits gegen afghanisches Recht; die Eheschließung ist unwirksam.

2. Die Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe der in Afghanistan rechtswidrig zwangsverheirateten Frauen, die sich im Fluchtland von ihrem Ehemann dauerhaft getrennt haben, begründet die Zuerkennung der Flüchtlings­eigenschaft (wie VG Würzburg, Urteil vom 14.3.2019 - W 9 K 17.31742 - juris und VG Gießen, Urteil vom 2.9.2019 - 1 K 7171/17.GI.A - juris)."

(Amtliche Leitsätze, ähnlich auch VG Gießen, Urteil vom 02.09.2019 - 1 K 7171/17.GI.A - asyl.net: M27715)

Schlagwörter: Afghanistan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, unwirksame Eheschließung, Strafbarkeit, nichtstaatliche Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung, Genfer Flüchtlingskonvention, materielles Asylrecht, minderjährig,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, StGB § 237, EMRK Art. 12, GR-Charta Art. 9, BGB § 1303,
Auszüge:

[...]

32 a) Die Verheiratung der Klägerin zu 1) im Jahre 2009 im Alter von 12 oder 13 Jahren oder auch den einmal im Verwaltungsverfahren bezeichneten 14 Jahren mit dem nur drei Jahre älteren K. A. war bereits nach afghanischem Familienrecht rechtswidrig und unwirksam. Das nahezu unverändert seit 1977 für sunnitische Religionszugehörige geltende afghanische Zivilgesetzbuch setzt das Ehefähigkeitsalter für Männer auf die Vollendung des 18. und für Frauen grundsätzlich auf die Vollendung des 16. Lebensjahres fest (Art. 70 afghZGB). Allerdings kann ein Mädchen, welches das 15. Lebensjahr vollendet hat, bereits durch seinen Vater – und wenn dieser nicht Inhaber der väterlichen Gewalt ist – durch den Richter verheiratet werden (Art. 71 und 78 afghZGB; vgl. Bergmann/Ferid, Internationales Ehe und Kindschaftsrecht, Stand 229. EL 2018, Afghanistan, S. 16; Bundesamt für  Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, 29.6.2018, S. 293). Die nach eigenen Angaben am 17. Dezember 1996 geborene Klägerin zu 1) hatte im Zeitpunkt der Eheschließung erst das 12. oder 13. Lebensjahr vollendet, sodass es ihr an der Ehefähigkeit fehlte. Die Angabe ihres Geburtsjahres 1996 wurde während ihres Aufenthalts in Deutschland von ihr nicht verändert. Die unter Beteiligung einer unter 16-Jährigen geschlossene Ehe ist deshalb unwirksam (Kriewald in: BeckOGK BGB, Stand 1.12.2018, § 1303 Rdnr. 20), ohne dass es zur Feststellung der Unwirksamkeit der Eheschließung eines Rückgriffs auf den ordre public bedarf. [...]

34 b) Eine (in Afghanistan erfolgte) Zwangsheirat stellt eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. AsylG dar. Danach gelten auch Handlungen als Verfolgung, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Infolge einer Zwangsheirat wird für eine Frau die individuelle und selbstbestimmte Lebensführung aufgehoben und ihre sexuelle Identität als Frau grundlegend in Frage gestellt. Die Frau wird als reines Wirtschaftsobjekt und als "verkaufbare" Sache be- und gehandelt. Eine Zwangsheirat ist eine schwerwiegende Verletzung von Menschenrechten, die in Deutschland nach § 237 StGB bestraft wird und gegen internationale Konventionen verstößt. Die Freiheit der Eheschließung ist in Art. 12 EMRK, Art. 9 GR-Charta und Art. 16 Abs. 2 UNMenschenrechtserklärung garantiert. Zudem droht einer von einer Zwangsheirat betroffenen Frau mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sexuelle Gewalt und im Falle der Verweigerung der Zwangsheirat oder der Flucht aus dieser physische Gewalt (vgl. VG Würzburg, Urteil vom 14.3.2019 – W 9 K 17.31742 – juris; VG Gießen, Urteil vom 2.9.2019 – 1 K 7171/17.GI.A - juris). Viele Gewaltfälle gelangen in Afghanistan nicht vor Gericht, sondern werden der traditionellen Streitbeilegung zugeführt, im Rahmen derer die verletzten Frauen oft darauf verwiesen werden, durch Rückkehr zu ihrem Ehemann den Familienfrieden wiederherzustellen (vgl. Auswärtiges Amt, aaO, S. 16).

35 Der Verfolgungsgrund ist im vorliegenden Fall die Zugehörigkeit der Klägerin zu 1) zu einer bestimmten sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch dann vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Dies ist hier wegen der erfolgten Zwangsverheiratung der Klägerin zu 1) der Fall. [...]