LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 15.07.2020 - L 9 AY 79/20 B ER - asyl.net: M28697
https://www.asyl.net/rsdb/M28697
Leitsatz:

Unterlassen der freiwilligen Ausreise kein Rechtsmissbrauch:

1. Vom Anspruch auf sogenannte Analogleistungen nach § 2 AsylbLG ist ausgeschlossen, wer die Dauer des Aufenthalts rechtsmissbräuchlich beeinflusst hat. 

2. In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus, das sich unter Berücksichtigung des Einzelfalls als unentschuldbar darstellt. Bloßes Nichtstun und das Unterlassen der freiwilligen Ausreise ist auch dann nicht rechtsmissbräuchlich, wenn die Betroffenen weder ein materielles Aufenthaltsrecht noch eine formale Rechtsposition innehaben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, Leistungskürzung, Anspruchseinschränkung, Rechtsmissbrauch, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Treu und Glauben,
Normen: AsylbLG § 2, BGB § 242,
Auszüge:

[...]

Die Voraussetzungen liegen vor. Der Antragsteller hält sich seit 16. April 2018 und so länger als 18 Monate im Bundesgebiet auf. Er hat die Dauer des Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst.

Der Begriff des Rechtsmissbrauchs wird im AsylbLG nicht definiert. Er wurzelt in dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (vgl. § 242 Bürgerliches Gesetzbuch). Als vorwerfbares Fehlverhalten beinhaltet er eine objektive (Missbrauchstatbestand) und eine subjektive Komponente (Verschulden). Der Vorschrift des § 2 AsylbLG und damit dem - die Beeinflussung der Aufenthaltsdauer dienenden - Rechtsmissbrauch liegt der Gedanke zu Grunde, dass niemand sich auf eine Rechtsposition berufen darf, die er selbst treuwidrig herbeigeführt hat (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 m.w.N.).

In objektiver Hinsicht setzt der Rechtsmissbrauch ein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten voraus. Der Ausländer soll danach von Analogleistungen ausgeschlossen sein, wenn die von § 2 AsylbLG vorgesehene Vergünstigung andernfalls auf gesetzwidrige oder sittenwidrige Weise erworben wäre. Dabei genügt angesichts des Sanktionscharakters des § 2 AsylbLG nicht schon jedes irgendwie zu missbilligende Verhalten. Nur ein Verhalten, das unter jeweiliger Berücksichtigung des Einzelfalls, der besonderen Situation eines Ausländers in der Bundesrepublik Deutschland und der besonderen Eigenheiten des AsylbLG unentschuldbar ist (Sozialwidrigkeit) führt zum Ausschluss von Analogleistungen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 32 m.w.N.). Die Gesetzesbegründung führt insoweit beispielhaft die Vernichtung des Passes und Angabe einer falschen Identität (BT-Drucks. 15/420, S. 121) als typische Fallgestaltungen (eines Rechtsmissbrauchs an, es sei denn, sie wären ihrerseits eine Reaktion auf oder eine vorbeugende Maßnahme gegen objektiv zu erwartendes Fehlverhalten des Staates, bei dem um Asyl nachgesucht wird - wie etwa eine rechtswidrige Zurückweisung bei der Einreise oder eine rechtswidrige Verweigerung der Einreise. Auf Rechtsmissbrauch kann sich der Staat dann nicht berufen, wenn er sich selbst rechtswidrig oder rechtsmissbräuchlich verhält.

Ausgehend von diesem Maßstab ist für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs nicht schon die zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition ausreichend, die der Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung erlangt hat, wenn es ihm möglich und zumutbar wäre, auszureisen (BSG, Urteil vom 17. Juni 2008 - B 8/9b AY 1/07 R, juris Rn. 35). Im vorliegenden Fall besaß der Antragsteller am 11. Dezember 2019 jedoch weder eine formelle Rechtsposition (z.B. Duldung) noch ein materielles Aufenthaltsrecht (z.B. Aufenthaltsgestattung). Erst am 2. Juni 2020 ist ihm eine Duldung erteilt worden. Jedoch kann vor dem Hintergrund der obigen vom Bundessozialgericht aufgestellten Grundsätze und angesichts der dort zitierten Gesetzesbegründung bloßes Nichtstun (konkret: das Unterlassen der freiwilligen Ausreise ab dem 11. Dezember 2019) auch bei Leistungsberechtigten, die weder ein materielles Aufenthaltsrecht noch eine formale Rechtsposition haben, nach Auffassung des erkennenden Senats nicht rechtsmissbräuchlich sein. Dass der Antragsteller sich ansonsten unredlich verhalten hat oder sich einer Abschiebung widersetzt hat, ist weder vorgetragen noch ersichtlich. Vielmehr hat er selbst angegeben, bereits in Griechenland als asylberechtigt anerkannt worden zu sein. [...]