VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Beschluss vom 05.08.2020 - 7 L 2362/20.TR - asyl.net: M28703
https://www.asyl.net/rsdb/M28703
Leitsatz:

Unterbrechung der Dublin-Überstellungsfrist bei Aussetzung des Verfahrens wegen Corona-Pandemie:

1. Die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Dublin III-VO wird grundsätzlich unterbrochen, wenn das BAMF nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung erklärt. 

2. Die Aussetzung darf jedoch nicht willkürlich und missbräuchlich oder unter Verkennung des Beschleunigungsgrundsatzes erfolgen. Eine Aussetzung, die im Wesentlichen mit einer durch die Corona-Pandemie verursachten Unmöglichkeit der Überstellung begründet wird, erscheint sachlich gerechtfertigt. Das Interesse an einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats tritt hinter das Interesse an der Verhinderung von Sekundärmigration zurück.

3. Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung ist ein anhängiger Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung. Im Falle einer Klagerücknahme nach Aussetzungsentscheidung des BAMF wird die Aussetzungsentscheidung im Zeitpunkt der Klagerücknahme, so dass die Überstellungsfrist ab diesem Zeitpunkt von Neuem zu laufen beginnt.

(Leitsätze der Redaktion; weitere Entscheidungen in der gesonderten Rechtsprechungsübersicht zur Aussetzungspraxis des BAMF sowie der Datenbank zu Dublin-Entscheidungen)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, Corona-Virus, Aussetzung der Vollziehung, Abschiebungsanordnung, Überstellungsfrist, Aussetzung des Verfahrens, Klagerücknahme, Beschleunigungsgebot,
Normen: VwGO § 80 Abs. 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 80 Abs. 7, VwGO § 123 Abs. 1, AsylG § 34a Abs. 2 S. 2, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 28, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

1. Die Zuständigkeit Italiens ist insbesondere (noch) nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 - Dublin III-Verordnung - wegen Ablaufs der Überstellungsfrist auf die Antragsgegnerin übergegangen. [...]

Die Überstellungsfrist wurde jedoch vor ihrem Ablauf wirksam durch die von der Beklagten am 23. März 2020 ausgesprochene Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-Verordnung unterbrochen.

Zwar ist der Antragstellerin darin zu folgen, dass Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass noch ein Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung anhängig ist (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 der Dublin III-Verordnung). Allerdings war dies zum Zeitpunkt der Aussetzungsentscheidung vom 23. März 2020 der Fall, denn die Antragstellerin hat die unter dem Aktenzeichen 7 K 4094/19.TR geführte Klage erst mit Schriftsatz vom 1. April 2020 zurückgenommen, woraufhin die Kammer das Klageverfahren durch unanfechtbaren Beschluss vom selben Tag eingestellt hat. Insofern hat die Klagerücknahme allenfalls bewirkt, dass ab diesem Zeitpunkt ex nunc eine tatbestandliche Voraussetzung für den Erlass der Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO entfallen und diese ex nunc rechtswidrig geworden ist. An der Unterbrechungswirkung der Überstellungsfrist nach der Dublin III-Verordnung durch die Aussetzungsentscheidung, die bereits am 23. März 2020 eingetreten ist, vermag die Klagerücknahme indes nichts zu ändern. Vielmehr hat die sechsmonatige Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-Verordnung aufgrund der Klagerücknahme und der unanfechtbaren Einstellung des Klageverfahrens am 1. April 2020 neu zu laufen begonnen und ist zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung folglich noch nicht abgelaufen. Mangels nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage zugunsten der Antragstellerin war die Antragsgegnerin demgemäß auch (noch) nicht gehalten, über den Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens der Antragstellerin gemäß §. 51 Abs. 1 Nr. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes - VwVfG - zu entscheiden.

Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung durch das Bundesamt ist auch generell geeignet, die Überstellungsfrist zu unterbrechen. [...]

Die Aussetzungsentscheidung der Beklagten vom 23. März 2020 war zu.diesem Zeitpunkt auch ansonsten rechtmäßig und hat damit zur Unterbrechung der sechsmonatigen Überstellungsfrist geführt. [...]

Die Aussetzungsentscheidung des Bundesamts vom 23. März 2020 steht mit diesen Grundsätzen im Einklang (ebenso: VG Berlin, Beschluss vom 16. Juli 2020 - 28 L 203/20 A -, juris; a.A.: OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 9. Juli 2020 - 1 LA 120/20 -, juris). Die getroffene Aussetzungsentscheidung aufgrund der vom Bundesamt zur Begründung angeführten - seinerzeitigen Ausbreitung der Erkrankung COVID-19 war sachlich gerechtfertigt und hat sich nicht als willkürlich oder sonst missbräuchlich dargestellt. Denn aufgrund dieses Umstands bestanden erhebliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der von der Antragsgegnerin angeordneten Abschiebung der Antragstellerin nach Italien. Nach § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedsstaat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies setzt voraus, dass die Abschiebung in nächster Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit auch tatsächlich möglich ist (Bergmann, in: Bergmann/Dienelt, 13. Auflage 2020, AsylG § 34a Rn. 3; Pietzsch, in: BeckOK AuslR, 25. Ed. 1.3.2020, AsylG § 34a Rn. 9; Kerstin Müller, in: NK-AuslR, 2. Auflage 2016, AsylVfG § 34a Rn. 11). [...]

Auch in der vorliegenden Fallkonstellation fällt die erforderliche Abwägung zwischen dem Interesse an einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats und andererseits an der Verhinderung von Sekundärmigration zugunsten des Interesses an einer Verhinderung von Sekundärmigration aus. [...]