VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 31.10.2019 - 39 K 61.19 A - asyl.net: M28721
https://www.asyl.net/rsdb/M28721
Leitsatz:

Keine Schutzzuerkennung im Zusammenhang mit dem Militärdienst in der Ukraine:

1. In der Ukraine droht keine unverhältnismäßige oder unmenschliche Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung oder Wehrdienstentziehung.

2. Es droht auch keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung während des Militärdienstes.

3. Entsendung in die nicht unter Kontrolle der ukrainischen Regierung stehenden Gebiete der Ostukraine ist unwahrscheinlich.

(Leitsätze der Redaktion, siehe zu diesem Thema auch VGH Bayern, Urteil vom 24.08.2017 - 11 B 17.30392 - Asylmagazin 4/2018, S. 127 ff. - asyl.net: M26044)

Schlagwörter: Ukraine, Wehrdienstverweigerung, Wehrdienstentziehung, Gewissensentscheidung, Pazifist, unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 3, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

20 a) Dem Kläger droht keine Verfolgung mit Blick auf die Befürchtung, zum Militärdienst eingezogen zu werden. Zwar ergibt sich aus dem zuletzt von ihm vorgelegten Einberufungsbescheid, dass er nach seiner Ausreise im Jahr 2015 zum Wehrdienst einberufen werden sollte. Der zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung 24-jährige Kläger befindet sich auch im wehrpflichtigen Alter. In der Ukraine besteht die Pflicht zur Ableistung des Grundwehrdienstes aktuell für Männer zwischen 20 und 27 Jahren (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 22. Februar 2019 – Lagebericht 2019, S. 10). Das Gesetz über die Militärpflicht sieht Wehrdienst zwar grundsätzlich für die 18 bis 27-jährigen vor, das Einberufungsalter wurde in diversen Dekreten aber konkretisiert, zunächst auf 18 bis 25 und seit 2015 auf 20 bis 27 (European Asylum Support Office, Stellungnahme vom 7. Dezember 2018, S. 3; vgl. auch Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt Ukraine, 26. Juli 2017 mit Kurzinformation vom 9. Januar 2019 – im Folgenden: BFA 2019 –, S. 31). Der Grundwehrdienst dauert grundsätzlich eineinhalb Jahre, für Wehrpflichtige mit Hochschulqualifikation 12 Monate. Wehrpflichtige werden nur auf der Grundlage eines entsprechenden Beschlusses des Ministerkabinetts sowie in festgelegten Zeiträumen und festgelegter Anzahl einberufen (vgl. Lagebericht 2019, a.a.O.).

21 Die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst stellt jedoch keine Verfolgungsmaßnahme dar. Grundsätzlich hat jeder Staat ein legitimes Recht, eine Streitkraft zu unterhalten, seine Staatsangehörigen zum Wehrdienst in dieser Streitkraft heranzuziehen (vgl. VGH München, Beschluss vom 15. Februar 2016 – 11 ZB 16.30012 –, Rn. 13, juris). Eine Verfolgungsmaßnahme liegt darin nur, wenn die Heranziehung zum Wehrdienst zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt würde, die dadurch gerade wegen ihrer Religion, ihrer politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen persönlichen Merkmals getroffen werden sollen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.09.1999 – BVerwG 9 B 7/99 –, Rn. 3, juris; VG Schwerin, Urteil vom 26. November 2018 – 5 A 2145/17 As SN –, Rn. 22, juris). Für eine diskriminierende Heranziehung bestimmter Personengruppen zum Militärdienst in der Ukraine bestehen jedoch keine Anhaltspunkte. Merkmale wie Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politische Überzeugung spielen bei der Heranziehung keine Rolle (vgl. Lagebericht 2019, S. 10; Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 14. Oktober 2015 auf die Anfrage des Bundesamtes vom 9. Oktober 2015; BFA 2019, S. 33).

22 b) Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung zu befürchten hat, vgl. § 3a Abs. 2 Nr. 3 AsylG.

23 Zum einen ist schon nicht ersichtlich, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr überhaupt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Strafverfolgung droht. Denn nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln dürfen in der Ukraine Einberufungsbefehle dem Betroffenen nur persönlich mit Empfangsbestätigung übergeben werden. Die Aushändigung an Dritte kann keine rechtlichen Konsequenzen für den Betroffenen nach sich ziehen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Bundesamt vom 24. Mai 2017; European Asylum Support Office, Stellungnahme vom 7. Dezember 2018, S. 5 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Ukraine: Military Service, Oktober 2018, S. 16; s.a. VGH München, Urteil vom 24. August 2017 – 11 B 17.30392 –, Rn. 24 ff., juris, VG Schwerin, Urteil vom 26. November 2018 – 5 A 2145/17 As SN –, Rn. 25, juris und 20. September 2017 – 5 A 1249/17 As SN –, Rn. 23, juris). [...]

24 Zum anderen stellen die an eine Wehrdienstentziehung geknüpften Sanktionen, selbst wenn sie – was hier nicht der Fall ist – von totalitären Staaten ausgehen, nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lediglich dann eine flüchtlingsrechtlich erhebliche Verfolgung dar, wenn sie nicht nur der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine staatsbürgerliche Pflicht dienen, sondern darüber hinaus den Betroffenen auch wegen seiner Religion, seiner politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylerheblichen Merkmals treffen sollen (BVerwG, Beschluss vom 24. April 2017 – BVerwG 1 B 22/17 –, Rn. 14, juris m.w.N.). Ähnlich geht der Europäische Gerichtshof davon aus, dass bei einer Verweigerung des Militärdienstes zu prüfen ist, ob die drohende Strafverfolgung über das hinausgeht, was erforderlich ist, damit der betreffende Staat sein legitimes Recht auf Unterhaltung einer Streitkraft ausüben kann (Urteil vom 26. Februar 2015 – C-472/13 – Rn. 50, juris; vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. März 2018 – OVG 3 B 23.17 –, Rn. 23, juris).

25 Weder für eine Anknüpfung der Strafverfolgung an flüchtlingsrechtlich relevante Merkmale noch für deren Unverhältnismäßigkeit bestehen vorliegend Anhaltspunkte.

26 In der Ukraine wird die Entziehung vom Wehrdienst nach Art. 335 ukr. StGB mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft. Für die Entziehung von der Wehrerfassung sieht Art. 337 ukr. StGB eine Geldstrafe bis zu 50 Mindestmonatslöhnen oder Besserungsarbeit bis zu zwei Jahren oder Freiheitsentziehung bis zu sechs Monaten vor (vgl. Lagebericht 2019, S. 12, und Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Ukraine vom 12. März 2018 – Lagebericht 2018, S. 11). Die Haftstrafen können nach Ermessen des ukrainischen Gerichts zur Bewährung ausgesetzt werden (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 30. August 2016 auf die Anfrage des Bundesamtes vom 28. Juli 2016). Trotz der Strafandrohung ist Wehrdienstentziehung in der Ukraine weit verbreitet. Hunderte ukrainische Männer sollen vor der Wehrpflicht ins Ausland geflohen sein. Es gibt sogar Berichte über Ukrainer, die auf der Flucht vor der Mobilisierung in Sri Lanka gestrandet sind. Offiziellen Zahlen zufolge sind im Jahr 2014 85.792 im Rahmen der Teilmobilisierung Einberufene nicht erschienen und 9.969 haben erwiesenermaßen den Dienst verweigert. 2015 waren rund 40.000 Mobilisierungsbefehle nötig, um 1.000 Personen tatsächlich einzuziehen (vgl. BFA 2019, S. 41 - 43). Im September 2017 sollten 10.470 Grundwehrdienstleistende eingezogen werden, von denen nur drei Prozent zum Dienst antraten (European Asylum Support Office, Stellungnahme vom 7. Dezember 2018, S. 7). In der Zeit vom 1. Juli 2014 bis 1. Juli 2015 wurden insgesamt 661 Strafverfahren wegen Wehrdienstentziehung eröffnet. Der Strafrahmen von zwei bis fünf Jahren wurde meist nicht ausgeschöpft, sondern die Strafen für ein bis zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Kein Verurteilter musste seine Strafe vollständig absitzen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Auskunft vom 11. Januar 2016, S. 2). 2015 soll die Regierung die Strafverfolgung bezüglich Wehrdienstverweigerung verstärkt haben, wobei sich das Strafmaß (weiterhin) oft auf Bewährungsstrafen beschränkte. Die Gerichte bewerten jeden Fall gesondert, um die individuelle Schwere der Schuld zu bewerten. Wenn der Betreffende mit den Behörden zusammenarbeitet, sind die Gerichte geneigt Strafen zu verhängen, die den Betreffenden nicht von der Gesellschaft isolieren (BFA 2019, S. 41 - 43). Soweit in der Auskunft des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl Österreich vom 11. Januar 2016 ein Artikel aus der Kyiv Post vom 27. August 2015 mit der Aussage zitiert wird, 400 Personen säßen wegen Wehrdienstentziehung in Haft (a.a.O., S. 7), ist diese Anzahl im Vergleich zu der Gesamtzahl der Wehrdienstentzieher immer noch gering und wird im Übrigen durch die weiteren Erkenntnismittel nicht bestätigt. Danach ist es lediglich in Einzelfällen zu Haftstrafen ohne Bewährung gekommen und die Gerichte verurteilen in den meisten Fällen zu Geldbußen oder Bewährungsstrafen (vgl. BFA 2019, S. 42; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Ukraine: Military Service, April 2017, S. 32 und Oktober 2018, S. 9, 40). Diese Strafen können nicht als unverhältnismäßig im oben dargestellten Sinn angesehen werden.

27 Beruft sich der Betreffende auf eine Gewissensentscheidung, kann eine unverhältnismäßige Bestrafung wegen einer Wehrdienstentziehung im Übrigen regelmäßig nur angenommen werden, wenn der Betreffende durch die fehlende Möglichkeit der Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgründen und die daraus folgende Bestrafung wegen Wehrdienstentziehung in seinem Recht aus Art. 9 EMRK verletzt wird. Dabei kommt es insbesondere auch darauf an, ob der Betreffende eine echte und aufrichtige Gewissensentscheidung gegen den Wehr- oder Kriegsdienst glaubhaft machen kann (vgl. VGH München, Urteil vom 24. August 2017 – 11 B 17.30392 –, Rn. 15, juris und Beschlüsse vom 13. Januar 2017 – 11 ZB 16.31051 – Rn. 4, juris, und 15. Februar 2016 – 11 ZB 16.30012 –, Rn. 13, juris; VG Ansbach, Urteil vom 26. Juli 2017 – AN 4 K 16.31057 –, Rn. 28, juris). Für eine verbindliche und unbedingte Gewissensentscheidung des Betroffenen müssen konkrete Anhaltspunkte anhand seiner persönlichen Entwicklung, seiner Lebensführung, seines bisherigen Verhaltens und der Einflüsse, denen er ausgesetzt war und ist, sowie der Motivation seiner Entscheidung festgestellt werden (vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 25. April 2018 – B 5 K 16.31862 –, Rn. 30, juris). [...]

28 c) Ein Anspruch des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt auch nicht aus § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3a Abs. 2 Nr. 5, § 3 Abs. 2 Satz 1 AsylG. Nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG kann die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt eine Verfolgungshandlung sein, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des § 3 Abs. 2 AsylG fallen. § 3 Abs. 2 AsylG erfasst Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aus der gesetzlichen Bestimmung des § 3a Abs. 3 AsylG, der insoweit Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95/EU umsetzt, ergibt sich, dass die Qualifizierung einer Handlung als Verfolgung im Sinne von § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG nicht ausreicht, um eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgungsmaßnahme zu begründen. Hinzukommen muss vielmehr eine "Verknüpfung" zwischen Handlung und Verfolgungsgrund, d.h. die Verfolgung muss "wegen" bestimmter Verfolgungsgründe drohen (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – BVerwG 1 C 33.18 –, Rn. 33, juris; Beschluss vom 5. Dezember 2017 – BVerwG 1 B 131/17 –, Rn. 10, juris; vgl. auch OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 21. März 2018 – OVG 3 B 28.17 –, Rn. 48, juris). Dies ist hier – wie ausgeführt – nicht der Fall.

29 Im Übrigen obliegt es demjenigen, der die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen möchte, mit hinreichender Plausibilität darzulegen, dass die Einheit, der er angehört, die Einsätze, mit denen sie betraut wurde, unter Umständen durchführt oder in der Vergangenheit durchgeführt hat, unter denen Handlungen der in dieser Bestimmung genannten Art mit hoher Wahrscheinlichkeit begangen werden oder wurden (EuGH, Urteil vom 26. Februar 2015 – C-472/13 –, juris, Rn. 43 – Shepherd). Dafür ist vorliegend nichts ersichtlich. Mit den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ist zwar davon auszugehen, dass es in den von Separatisten kontrollierten Gebieten der Oblaste Donezk und Luhansk ebenso zu schweren Menschenrechtsverletzungen gekommen ist wie auch in Gebieten, in denen ukrainische "Freiwilligen-Bataillone" gegen Separatisten vorgehen (vgl. Lagebericht 2019, S. 13 f.). Von Übergriffen der Streitkräfte wurde dagegen nur vereinzelt berichtet (vgl. Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights – OHCHR –, Report Ukraine, Dezember 2016, S. 14; Amnesty International Report 2017, S. 1), solche Vorfälle werden von Seiten der Regierung auch untersucht (vgl. OHCHR-Report Ukraine, Juni 2017, S. 9). Für Militärangehörige besteht keine beachtliche Wahrscheinlichkeit, an völkerrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Ukraine: Military Service, Oktober 2018, S. 8). Unabhängig davon ist nicht plausibel dargelegt, dass der Kläger im Falle seiner Einberufung einer entsprechenden Einheit angehören wird. [...]