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BGH, Beschluss vom 22.07.2020 - XII ZB 131/20 - asyl.net: M28724
https://www.asyl.net/rsdb/M28724
Leitsatz:

Keine Aufhebung von Minderjährigenehe bei Vorliegen gewichtiger Gründe:

"a) Die Aufhebbarkeit einer Auslandsehe, die mit einem Ehegatten geschlossen worden ist, der bei Eheschließung zwar das 16., aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, richtet sich nach §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung. Die Überleitungsvorschriften der Art. 229 § 44 Abs. 1 und 2 EGBGB sind auf solche Ehen nicht auch nicht entsprechend anzuwenden.

b) Ob einer der von § 1316 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 BGB genannten Gesetzesverstöße vorliegt, bei denen die zuständige Verwaltungsbehörde berechtigt ist, einen Antrag auf Eheaufhebung zu stellen, ist keine Frage der Antragsberechtigung, sondern eine der Begründetheit des Antrags (Abgrenzung zu Senatsurteil vom 11. April 2012 XII ZR 99/10 FamRZ 2012, 940).

c) Für die Bestätigung der Ehe ist zwar die positive Kenntnis des Ehegatten von ihrer Aufhebbarkeit nicht erforderlich. Er muss aber die den Ehemangel begründenden Tatsachen kennen und wenigstens ein allgemeines Bewusstsein davon haben, dass er die Ehe wegen des Eingehungsmangels zur Auflösung bringen kann oder dass Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen und er durch sein Verhalten ein möglicherweise vorhandenes Aufhebungsrecht aufgibt.

d) Die Norm des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB räumt dem Richter für die Frage, ob die Ehe bei Vorliegen des Aufhebungsgrundes aufzuheben ist, ein eingeschränktes Ermessen ein. Fehlt in diesen Fällen ein Ausschlussgrund gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB, kann von einer Eheaufhebung ausnahmsweise dann abgesehen werden, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Eheschließung, Aufhebung, minderjährig, verfassungskonforme Auslegung, Schutz von Ehe und Familie, Eheschließung im Ausland, Rückwirkung,
Normen: GG Art. 3 Abs. 1, GG Art. 6, BGB § 1303, BGB § 1314, EGBGB Art. 13 Abs. 3, EGBGB Art. 229 § 44, BGB § 1315 Abs. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

12 2. Ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht die Ehe der Antragsgegner als wirksam behandelt.

13 Die Vorfrage, ob die im Zeitpunkt der Eheschließung minderjährige Antragsgegnerin eine wirksame Ehe eingegangen ist, ist selbständig anzuknüpfen. Sie richtet sich gemäß Art. 11, 13 Abs. 1 EGBGB nach libanesischem Recht, weil beide Ehegatten bei Eheschließung im Libanon die libanesische Staatsangehörigkeit hatten und das libanesische Recht nach den in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht angegriffenen tatrichterlichen Feststellungen keine Rückverweisung ausspricht (vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 2018 XII ZB 292/16 FamRZ 2019, 181 Rn. 36 mwN). [...]

15 3. Im Grundsatz ebenfalls zutreffend hat das Beschwerdegericht angenommen, dass sich die Aufhebbarkeit der Ehe der Antragsgegner nach den §§ 1313 ff. BGB in der aktuell geltenden Fassung richtet. Es hat jedoch zu Unrecht eine entsprechende Anwendung von Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB bejaht. [...]

20 aa) Die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 1 EGBGB, nach der § 1303 Satz 2 BGB in der ab dem 22. Juli 2017 geltenden Fassung für Ehen, die vor diesem Datum geschlossen worden sind, nicht anzuwenden ist und die Aufhebbarkeit dieser Ehen sich nach dem bis dahin geltenden Recht richtet, erfasst entgegen der noch vom Amtsgericht vertretenen Meinung solche Auslandsehen nicht. Bereits aus dem Wortlaut ergibt sich eindeutig, dass die Regelung sich nur auf inländische Ehen im Sinne des § 1303 Satz 2 BGB bezieht, die also mit einer Person, die bei Eingehung der Ehe das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, geschlossen worden sind. Diese sollen nicht nach neuem Recht unwirksam, sondern nach altem Recht aufhebbar sein. Der Gesetzgeber wollte insoweit allein eine Regelung für nach deutschem Recht geschlossene Ehen treffen (vgl. BT-Drucks. 18/12086 S. 24; BR-Drucks. 275/17 S. 26), weshalb er für Auslandsehen mit Personen im Alter unter 16 Jahren in Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB eine spezielle Bestimmung zur Anwendbarkeit des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB geschaffen hat.

21 bb) Ebenfalls nicht einschlägig ist die Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 2 EGBGB, nach der die Aufhebung einer Ehe wegen eines Verstoßes gegen § 1303 BGB ausgeschlossen ist, wenn sie nach Befreiung vom Erfordernis der Volljährigkeit nach § 1303 Abs. 2 bis 4 BGB aF und vor dem 22. Juli 2017 geschlossen worden ist. Sowohl aus dem Wortlaut der Norm als auch aus dem vom Gesetzgeber mit ihr verfolgten Sinn und Zweck (vgl. dazu BT-Drucks. 18/12086 S. 24; BR-Drucks. 275/17 S. 26) ergibt sich, dass auch diese Regelung nur nach deutschem Recht geschlossene Ehen erfasst. Entgegen der vom Beschwerdegericht vertretenen Auffassung (ebenso BeckOGK/Kriewald [Stand: 1. April 2020] EGBGB Art. 229 § 44 Rn. 20; Hüßtege FamRZ 2017, 1374, 1375) ist die Bestimmung auch nicht entsprechend auf vor dem 22. Juli 2017 geschlossene Auslandsehen von Minderjährigen anzuwenden, für die dem minderjährigen Ehegatten im Ausland ein richterlicher Dispens vom Erfordernis der Ehemündigkeit erteilt worden ist (vgl. auch Coester-Waltjen IPrax 2017, 429, 433; Onwuagbaizu NZFam 2019, 465, 469). [...]

25 4. Die Ehe der Antragsgegner ist daher grundsätzlich gemäß Art. 13 Abs. 3 Nr. 2 EGBGB, § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB aufhebbar, weil die Antragsgegnerin bei Eheschließung zwar das 16., nicht aber das 18. Lebensjahr vollendet hatte.

26 a) Der auf eine entsprechende richterliche Entscheidung zielende Antrag (§ 1313 Satz 1 BGB) der zuständigen Behörde ist entgegen der Auffassung des Beschwerdegerichts nicht unzulässig.

27 aa) Ob einer der von § 1316 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 BGB genannten Gesetzesverstöße vorliegt, bei denen die zuständige Verwaltungsbehörde berechtigt ist, einen Antrag auf Eheaufhebung zu stellen, ist keine Frage der Antragsberechtigung, sondern der Begründetheit des Antrags. Die sich zu einer Antragspflicht verdichtende Antragsberechtigung der Behörde bei einem Verstoß gegen das Ehemündigkeitsalter des § 1303 Satz 1 BGB wird allerdings eingeschränkt durch § 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB, wonach der Antrag nicht zu stellen ist, wenn der minderjährige Ehegatte zwischenzeitlich volljährig geworden ist und zu erkennen gegeben hat, dass er die Ehe fortsetzen will. In einem solchen Fall fehlt es ebenso wie bei Bejahung der Härteklausel des § 1316 Abs. 3 Satz 1 BGB für einen dort genannten Verstoß an der Antragsberechtigung, so dass der Antrag als unzulässig zurückzuweisen ist (vgl. Senatsurteil vom 11. April 2012 XII ZR 99/10 FamRZ 2012, 940 Rn. 12). Denn bei Bestätigung der Ehe durch den volljährig gewordenen Ehegatten ist die Eheaufhebung nach § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB ausgeschlossen, so dass ein Aufhebungsantrag der Behörde sinnlos wäre.

28 bb) Anders als das Amtsgericht hat das Beschwerdegericht jedoch keine Bestätigung im Sinne des § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB angenommen. Das ist aus rechtsbeschwerderechtlicher Sicht nicht zu beanstanden.

29 (1) Bei der Bestätigung im Sinne der §§ 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. a, 1316 Abs. 3 Satz 2 BGB handelt es sich nicht um eine rechtsgeschäftliche Willenserklärung, sondern um eine rechtsgeschäftsähnliche Handlung, mit der der betreffende Ehegatte nach außen zu erkennen gibt, dass er die Ehe trotz des erkannten Mangels fortsetzen will. Zwar ist hierfür die positive Kenntnis der Aufhebbarkeit nicht erforderlich. Der Ehegatte muss aber die den Ehemangel begründenden Tatsachen kennen und wenigstens ein allgemeines Bewusstsein davon haben, dass er die Ehe wegen des Eingehungsmangels zur Auflösung bringen kann oder dass Zweifel an ihrer Gültigkeit bestehen und er durch sein Verhalten ein möglicherweise vorhandenes Aufhebungsrecht aufgibt. Eine Bestätigung kann in jedem Verhalten liegen, durch das der Ehegatte seinen Willen, den Aufhebungsgrund auf sich beruhen zu lassen, nach objektiver Betrachtung zum Ausdruck bringt (allg. Meinung, vgl. etwa BeckOGK/M. Otto [Stand: 15. Mai 2020] BGB § 1315 Rn. 6; BeckOK BGB/Hahn [Stand: 1. Mai 2020] § 1315 Rn. 3 f. mwN; Johannsen/Henrich Familienrecht 6. Aufl. § 1315 Rn. 4 ff. mwN; jurisPK-BGB/Schiefer [Stand: 15. Oktober 2019] § 1315 Rn. 6 f. mwN; MünchKommBGB/Wellenhofer 8. Aufl. § 1315 Rn. 10 f. mwN; Pa-landt/Brudermüller BGB 79. Aufl. § 1315 Rn. 6; Staudinger/Voppel BGB [2018] § 1315 Rn. 11 ff.; vgl. auch OLG Hamm FamRZ 1994, 383 zu § 32 Abs. 2 EheG).

30 (2) Tatsachen, die nach diesen Maßgaben eine Ehebestätigung durch die Antragsgegnerin begründen können, hat das Beschwerdegericht nicht festgestellt. Zwar hat die Antragsgegnerin nach Erreichen der Volljährigkeit jahrelang in dem Wissen, bei Eheschließung 16 Jahre alt gewesen zu sein, mit dem Antragsgegner in ehelicher Gemeinschaft zusammengelebt. Es ist aber nicht ersichtlich, dass sie Zweifel an der Rechtswirksamkeit der Ehe hatte. Da die Trennung der Ehegatten vor dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen erfolgt ist, kommt es auf dadurch gegebenenfalls begründete Zweifel an der Wirksamkeit der Ehe nicht an.

31 b) Die Eheaufhebung wegen Verstoßes gegen die Ehemündigkeitsnorm des § 1303 Satz 1 BGB ist auch nicht gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB ausgeschlossen. Dieser nach seinem Wortlaut äußerst eng gehaltene Ausschlusstatbestand setzt voraus, dass auf Grund außergewöhnlicher Umstände die Aufhebung der Ehe eine so schwere Härte für den minderjährigen Ehegatten darstellen würde, dass die Aufrechterhaltung der Ehe ausnahmsweise geboten erscheint. Der Gesetzgeber wollte damit ganz bewusst nur gravierende Einzelfälle wie beispielsweise eine schwere und lebensbedrohliche Erkrankung oder eine krankheitsbedingte Suizidgefahr des minderjährigen Ehegatten (vgl. BT-Drucks. 18/12086 S. 17, 22) erfassen und vertrat insoweit wenig konsistent mit den weiter genannten Fällen (vgl. etwa OLG Frankfurt FamRZ 2019, 1853, 1854; Coester-Waltjen IPrax 2017, 429, 431) in der Gesetzesbegründung zudem die Auffassung, eine außergewöhnliche Härte könne sich im Einzelfall auch daraus ergeben, dass die Aufhebung einer unter Beteiligung eines minderjährigen Unionsbürgers geschlossenen Ehe dessen Freizügigkeit verletzen würde (vgl. BT-Drucks. 18/12086 S. 17, 22). Einem erweiterten Anwendungsbereich der Härtefallregelung erteilte er im Gesetzgebungsverfahren eine ausdrückliche Absage (vgl. BT-Drucks. 18/12377 S. 10 f.).

32 Für eine Härte in diesem Sinne ist hier nichts erkennbar. Vielmehr will sich die seit vielen Jahren volljährige Antragsgegnerin trotz der vier gemeinsamen Kinder selbst von der Ehe lösen und hat sich inzwischen einem neuen Lebensgefährten zugewandt. Dass für sie mit der Eheaufhebung der Verlust von wirtschaftlich relevanten Rechtsansprüchen einhergehen würde, haben die Vorinstanzen nicht festgestellt.

33 5. Trotz Verstoßes gegen das Ehemündigkeitsalter und damit Vorliegen eines Aufhebungsgrundes im Sinne des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB führt die im Rahmen dieser Norm dem Gericht eingeräumte Ermessensausübung hier aber dazu, dass die Ehe der Antragsgegner nicht aufzuheben ist.

34 a) Allerdings ist streitig, ob § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB, gemäß dem eine Ehe bei Vorliegen eines Verstoßes gegen § 1303 Satz 1 BGB aufgehoben werden "kann", dem Gericht ein Entscheidungsermessen einräumt.

35 aa) Die deutlich überwiegende Auffassung lehnt das zumeist ohne Begründung (BeckOGK/M. Otto [Stand: 15. Mai 2020] BGB § 1315 Rn. 12; Coester-Waltjen IPrax 2017, 429, 434; Erbarth FamRB 2018, 296, 297; Löhnig FamRZ 2018, 749, 750; Onwuagbaizu NZFam 2019, 465, 467; Rauscher NJW 2018, 3421, 3422; kritisch Andrae Internationales Familienrecht 4. Aufl. § 1 Rn. 137 f.) ab. [...]

36 bb) Demgegenüber verweist die Gegenansicht insbesondere auf den Gesetzeswortlaut sowie teilweise auch auf verfassungsrechtliche Bedenken gegen einen Aufhebungszwang (vgl. AG Frankenthal FamRZ 2018, 749; BeckOGK/M. Otto [Stand: 15. Mai 2020] BGB § 1314 Rn. 2; Gausing/Wittebol DÖV 2018, 41, 47; MünchKommBGB/Wellenhofer 8. Aufl. § 1314 Rn. 6; Wel-ler/Thomale/Hategan/Werner FamRZ 2018, 1289, 1297 f.).

37 b) Zutreffend ist die letztgenannte Ansicht. [...]

42 dd) Den Ausschlag dafür, dem Familiengericht jedenfalls im Rahmen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein Ermessen zuzuerkennen, gibt jedoch das Erfordernis einer verfassungskonformen Auslegung des Gesetzes. [...]

44 (2) Die Verneinung eines gerichtlichen Ermessens in den Fällen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB würde zur Verfassungswidrigkeit der Norm führen (so auch Coester-Waltjen IPrax 2019, 127, 129 f.; Gausing/Wittebol DÖV 2018, 41, 47, 50; vgl. zudem Onwuagbaizu NZFam 2019, 465, 468 f.).

45 (a) Das folgt bereits daraus, dass Ehen, die Personen im Alter von 16 oder 17 Jahren nach ausländischem Recht vor dem 22. Juli 2017 geschlossen haben, anders als Ehen nach deutschem Recht selbst dann von den Fällen des § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BGB abgesehen stets aufzuheben wären, wenn ein § 1303 Abs. 2 BGB aF gleichwertiger Dispens eines ausländischen Familiengerichts erteilt worden war. Für die hierin liegende Ungleichbehandlung im Sinne des Art. 3 Abs. 1 GG ist eine Rechtfertigung nicht ersichtlich (vgl. auch Erbarth FamRB 2019, 425, 426). Die Ungleichbehandlung wird wie der vorliegende Fall verdeutlicht, in dem nach zwischenzeitlichem Scheitern der Ehe eine Bestätigung ausscheidet auch nicht ausreichend durch die Bestätigungsmöglichkeit nach Erreichen der Volljährigkeit ausgeglichen, so dass es in derartigen Fällen einer Korrekturmöglichkeit durch das Gericht bedarf.

46 (b) Ebenfalls nicht mit Art. 3 Abs. 1 GG ist vereinbar, dass solche Auslandsehen rechtlich anders behandelt werden als Auslandsehen im Sinne des Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB, bei denen der im Zeitpunkt der Eheschließung minderjährige Ehegatte das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Art. 229 § 44 Abs. 4 EGBGB sieht für solche Ehen die Anwendbarkeit des früher geltenden Rechts und damit allein eine ordre-public-Prüfung nach Art. 6 EGBGB vor, wenn der Minderjährige vor dem 22. Juli 1999 geboren wurde und damit bei Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung von Kinderehen das 18. Lebensjahr bereits vollendet hatte (Nr. 1) oder wenn die nach ausländischem Recht wirksame Ehe bis zur Volljährigkeit des minderjährigen Ehegatten geführt worden ist und bis dahin kein Ehegatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte (Nr. 2). Eine vergleichbare Vorschrift fehlt für Ehen von mindestens 16 Jahre alten Minderjährigen. Dies führt zu dem in sich nicht stimmigen Ergebnis, dass die von älteren Minderjährigen geschlossenen Auslandsehen nach deutschem Recht teilweise geringeren Bestandsschutz genießen als diejenigen jüngerer Minderjähriger (vgl. auch Frie FamRB 2017, 232, 237 f.). Auch dieser verfassungswidrigen Ungleichbehandlung kann nach geltendem Recht nur mit einer ein gerichtliches Ermessen bejahenden Gesetzesauslegung begegnet werden.

47 (c) Die Annahme einer zwingenden Eheaufhebung unter Ausschluss eines gerichtlichen Ermessens wäre zudem unvereinbar mit dem von Art. 2 GG iVm Art. 1 GG gebotenen Schutz des Kindeswohls. Insoweit gilt für im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach deutschem Recht noch nicht volljährige Ehegatten, die im Zeitpunkt der Eheschließung nach ausländischem Recht das 16. Lebensjahr vollendet hatten, das Gleiche wie für bei Eheschließung jüngere Ehegatten. Für diese hat der Senat bereits entschieden, dass der Schutz des Kindeswohls eine konkrete Prüfung des Wohls des betroffenen Kindes im Einzelfall gebietet. Denn jeder Minderjährige ist ein Wesen mit eigener Menschenwürde und einem eigenen Recht auf Entfaltung und Entwicklung seiner Persönlichkeit (vgl. Senatsbeschluss vom 14. November 2018 XII ZB 292/16 FamRZ 2019, 181 Rn. 81 ff.). Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen würde eine gesetzliche Regelung, die eine Berücksichtigung der Einzelfallumstände nur in dem von der Härtefallprüfung des § 1315 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 lit. b BGB vorgegebenen, äußerst verengten Rahmen erlaubt, nicht gerecht.

48 (d) Schließlich verstieße eine Auslegung, nach der § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB dem Gericht bei Vorliegen des Eheaufhebungsgrundes kein Ermessen gewährt, auch gegen Art. 6 Abs. 1 GG unter dem Gesichtspunkt des aus Art. 20 Abs. 3 GG abgeleiteten Vertrauensschutzes. [...]

49 (3) Daher ist die vom Gesetzeswortlaut gedeckte Auslegung geboten, wonach dem Gericht von § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB ein Ermessen eingeräumt ist. Dies widerspricht auch nicht dem den Materialien zu entnehmenden Willen des Gesetzgebers, sondern wird im Gegenteil sogar in besonderer Weise der erklärten gesetzgeberischen Zielsetzung des Minderjährigenschutzes (vgl. BT-Drucks. 18/12086 S. 1, 15; BR-Drucks. 275/17 S. 1, 14) gerecht.

50 Der weiter vom Gesetzgeber verfolgten Absicht, für Rechtsklarheit zu sorgen (vgl. BT-Drucks. 18/12086 S. 1; BR-Drucks. 275/17 S. 1) und das in Deutschland geltende Ehemündigkeitsalter des § 1303 BGB auch mit Bezug auf Auslandsehen durchzusetzen, haben die Gerichte mit einer inhaltlich eingeschränkten Ermessensausübung Rechnung zu tragen. Bei Vorliegen des Eheaufhebungsgrundes nach § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB und Fehlen eines Ausschlussgrundes gemäß § 1315 Abs. 1 Satz 1 BGB wird von einer Eheaufhebung danach nur dann ausnahmsweise abgesehen werden können, wenn feststeht, dass die Aufhebung in keiner Hinsicht unter Gesichtspunkten des Minderjährigenschutzes geboten ist, sondern vielmehr gewichtige Umstände gegen sie sprechen.

51 c) Das Beschwerdegericht hat von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig von dem ihm mithin zustehenden eingeschränkten Ermessen im Rahmen des § 1314 Abs. 1 Nr. 1 BGB keinen Gebrauch gemacht. Da keine weiteren Tatsachenfeststellungen zu treffen sind, ist dem Senat vorliegend eine eigene Ermessensausübung möglich (vgl. Senatsbeschluss vom 7. März 2018 XII ZB 535/17 FamRZ 2018, 942 Rn. 8 mwN). Diese führt dazu, dass von ei-ner Eheaufhebung abzusehen ist.

52 Umstände, die eine Eheaufhebung zum Schutz der bei Eheschließung fast 17-jährigen Antragsgegnerin nach dem dargestellten Maßstab gebieten würden, liegen nicht vor. Vielmehr ist sie inzwischen 35 Jahre alt, hat die fast 14 Jahre des ehelichen Zusammenlebens mit dem Antragsgegner ausschließlich in Deutschland verbracht und nach Erreichen der Volljährigkeit mit diesem zusammen vier eheliche Kinder gezeugt. Eine Eheaufhebung würde mithin in krassem Gegensatz zu der langjährig bewusst im Erwachsenenalter gelebten Familienwirklichkeit stehen. Wie die Geschehnisse seit der Trennung verdeutlichen, ist die Antragsgegnerin ohne weiteres zu einem selbstbestimmten, von ihrem Ehemann unabhängigen Leben in der Lage. Nicht zuletzt die zu den Ehen von Personen, die bei Eheschließung jünger als 16 Jahre alt waren, in der Überleitungsvorschrift des Art. 229 § 44 Abs. 4 Nr. 1 EGBGB getroffene gesetzgeberische Wertung spricht maßgeblich dafür, die Ehe der fast 15 Jahre vor dem dort genannten Stichtag (22. Juli 1999) geborenen Antragsgegnerin uneingeschränkt als wirksam anzusehen und daher nicht aufzuheben. Soweit die Antragsgegnerin die Aufhebung der langjährig gelebten Ehe wünscht, führt dies zu keinem anderen Ergebnis der Ermessensausübung, weil sie über die Aufhebung der Ehe nicht disponieren kann. Vielmehr steht ihr insoweit die Scheidung der Ehe offen.[...]