VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 13.08.2020 - AN 17 E 20.50216 - asyl.net: M28742
https://www.asyl.net/rsdb/M28742
Leitsatz:

Einstweiliger Rechtsschutz für Dublin-Familienzusammenführung aus Griechenland:

1. Die Vorschriften der Dublin III-Verordnung zum Schutz und zur Wahrung der Familieneinheit dienen auch dem Grundrechtsschutz. Sie gewähren deshalb auch ein subjektives Recht auf Prüfung des Asylantrags durch den zuständigen Mitgliedstaat. Zur Durchsetzung dieses Rechts kann ein Anspruch darauf bestehen, dass ein Mitgliedstaat sich gegenüber dem Aufnahmeersuchen eines anderen Mitgliedstaates für zuständig erklärt.

2. Maßgeblicher Beurteilungszeitpunkt für die Minderjährigkeit ist nach der sogenannten Versteinerungsklausel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-Verordnung der Zeitpunkt der Antragstellung.

3. An den Nachweis der familiären Beziehungen sind für die Familienzusammenführung im Dublin-Verfahren geringere Anforderungen zu stellen als für eine Familienzusammenführung nach dem Aufenthaltsgesetz.

4. Die rechtswidrige Ablehnung eines Aufnahmegesuchs zur Familienzusammenführung durch den zuständigen Mitgliedstaat begründet keinen Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden, unzuständigen Mitgliedstaat

5. Eine besondere Dringlichkeit, die eine Zuständigkeitserklärung im einstweiligen Rechtsschutz rechtfertigt, liegt vor, da im ersuchenden Mitgliedsstaat eine sachliche Entscheidung über den Asylantrag bevorsteht. Denn danach unterfallen die Schutzsuchenden nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-Verordnung, weshalb ein nicht umkehrbarer Zuständigkeitsübergang einträte, der die Familieneinheit auf asylrechtlicher Grundlage unmöglich macht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienzusammenführung, Griechenland, einstweilige Anordnung. Beurteilungszeitpunkt, Versteinerungsklausel, Schutz von Ehe und Familie, Beweismittel, subjektives Recht, Dublin III-Verordnung,
Normen: GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 6, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 9, VO 604/2013 Art. 21 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 20 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

25 Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Den Antragstellern ist es sowohl gelungen, einen entsprechenden Anordnungsanspruch als auch die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen. Insbesondere ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache geboten. [...]

28 Art. 9, 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO vermitteln den Antragstellern diesbezüglich auch ein subjektives Recht, so dass eine hiermit nicht in Einklang stehende Entscheidung der Antragsgegnerin gerichtlich überprüft werden kann (vgl. VG Ansbach, B.v. 2.10.2019 - AN 18 E 19.50790, B.v. 26.11.2019 - AN 18 E 19.50958 - juris Rn. 26; VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A). Auch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat entschieden, dass die Vorschriften der Dublin III-VO, wenn sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern - wie hier - (auch) dem Grundrechtsschutz dienen, den Asylsuchenden ein subjektives Recht auf Prüfung ihres Asylantrages durch den zuständigen Mitgliedstaat geben (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 - 13 a B 15.50124 - juris Rn. 23 - bezüglich der Regelung des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO). [...]

30 Die Antragsteller zu 1) und 2) und der in Deutschland lebende minderjährige Sohn der Antragsteller zu 1) und 2) sind Familienangehörige im Sinne der Vorschrift, Art. 2 lit. g Dublin III-VO. Die Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung des Asylverfahrens auch der Antragsteller zu 3) und 4) begründet sich aus dem Schutz und der Wahrung der Familieneinheit und einer insoweit über Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO vermittelten verfahrensrechtlichen Akzessorietät zum Verfahren der Eltern, der Antragsteller zu 1) und 2). Dies steht auch im Einklang mit Art. 23 der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), wonach die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass der Familienverband aufrechterhalten wird. Die Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zu 3) bis 4) folgt somit aus Art. 20 Abs. 3 Satz 1 Dublin III-VO, wonach für die Zwecke dieser Verordnung die Situation eines mit dem Antragsteller einreisenden Minderjährigen, der der Definition des Familienangehörigen entspricht, untrennbar mit der Situation seines Familienangehörigen verbunden ist und in die Zuständigkeit des Mitgliedstaates fällt, der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz dieses Familienangehörigen zuständig ist, sofern dies dem Wohl des Minderjährigen dient. Die Antragsteller zu 3) und 4) sind mit ihren Eltern, den Antragstellern zu 1) und 2), eingereist und sind als minderjährige Kinder auch Familienangehörige im Sinne des Art. 2 lit. g Dublin III-VO. Mit der Zuständigkeit Deutschlands für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller nach Art. 9 Dublin III-VO ist Deutschland auch zuständig für die Prüfung der Asylanträge der Antragsteller zu 3) und 4). Dies dient auch dem Kindeswohl. Auch ist unerheblich, dass die Antragstellerin zu 3) mittlerweile nicht mehr minderjährig ist, sondern am ... 2020 volljährig wurde, Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO. Die Versteinerungsklausel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist anzuwenden, es sei denn, eine Ausnahme hiervon ist ausdrücklich angeordnet oder ergibt sich aus dem Regelungszusammenhang einzelner Vorschriften. So kann beispielsweise die im Rahmen des Art. 9 Dublin III-VO erforderliche Zustimmung (Wunsch) der Beteiligten denknotwendig erst dann erfolgen, wenn der Antrag bei dem prüfenden Mitgliedstaat gestellt wurde (vgl. hierzu: Thomann in Beck OK, Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bader/Kothe, 5. Ed., Stand: 01.07.2020, VO (EU) 604/2013), Art. 7 Rn. 24 ff.). Für die abgeleitete Zuständigkeit nach Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO ist - ebenso wie für die hier primäre zuständigkeitsbegründende Norm des Art. 9 Dublin III-VO - die Versteinerungsklausel anzuwenden, was sich aus der über Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO vermittelten verfahrensrechtlichen Akzessorietät der Verfahren der Kinder zu den Verfahren der Eltern ergibt. Eine andere Auffassung würde zudem zu erheblichen Rechtsunsicherheiten führen. So wäre schon unklar, was als "späterer Zeitpunkt" gilt, auf den hinsichtlich der Minderjährigkeit abzustellen ist (Zeitpunkt der Behördenentscheidung, wenn ja, welcher, Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung etc.). Maßgeblich ist damit die Situation am 23. Juli 2018, dem Tag der erstmaligen Asylantragstellung durch die Antragsteller in Griechenland. Am 23. Juli 2018 war auch die Antragstellerin zu 3) noch minderjährig. [...]

33 [...] Dies gilt vor allem auch deshalb, da die Hürde für den Nachweis von Familienbindungen im Dublin-Verfahren geringer ist als etwa im Verfahren zur Familienzusammenführung nach dem Aufenthaltsgesetz. Ziel des Verfahrens ist eine schnelle Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates, weswegen auch insbesondere Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO bestimmt, dass das Beweiserfordernis nicht überdehnt werden darf. [...]

39 Bereits die erstmalige Ablehnung des Aufnahmegesuchs durch die Antragsgegnerin wie auch die folgende nicht fristgerechte (Art. 5 Abs. 2 Satz 3 Dublin-Durchführungsverordnung) Ablehnung erfolgten rechtswidrig und können somit keinen Zuständigkeitsübergang auf Griechenland zur Folge haben (vgl. hierzu: VG Ansbach, B.v. 2.10.2019 - AN 18 E 19.50790). [...]

41 b) Den Antragstellern ist es auch gelungen, einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich eines drohenden Rechtsverlusts glaubhaft zu machen. Ein solcher ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen des griechischen Dublin-Referats, eine Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin zu erreichen, nunmehr eine Sachentscheidung der griechischen Asylbehörden über die Asylbegehren der Antragsteller zu besorgen steht, womit diese nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin III-VO unterfielen (vgl. VG Berlin, B.v. 15.3.2019 - 23 L 706.18 A - juris Rn. 36; VG Münster, B.v. 20.12.2018 - 2 L 989/18.A - juris Rn. 69). Hierfür ist es insbesondere nicht zwingend erforderlich, dass den Antragstellern bereits ein Anhörungstermin bekannt ist. Auch ohne einen solchen ist hier grundsätzlich mit einer jederzeitigen Sachentscheidung der griechischen Behörden über die Asylanträge zu rechnen. Dies gilt umso mehr, als die letztmalige Ablehnung der Übernahme der Antragsteller durch die Antragsgegnerin vom 19. Dezember 2019 bereits mehr als ein halbes Jahr zurückliegt. [...]