VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 07.08.2020 - M 18 K 17.43616 - asyl.net: M28744
https://www.asyl.net/rsdb/M28744
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für afghanische Person wegen Desertion von den Taliban:

1. Es ist eine gängige Praxis der Taliban, im Internet Drohvideos zu veröffentlichen, um Personen, die sich der Mitarbeit verweigern oder sich von der Gruppe abgewandt haben, dazu zu bewegen, sich ihnen (wieder) anzuschließen.

2. Für die Taliban steht aufgrund der religiösen Legitimierung ihres Herrschaftsanspruches eine Desertion von der Gruppe dem Abfall vom Islam gleich. In der Folge ist auch dann von einer fortwährenden Verfolgungsgefahr auszugehen, wenn die Abkehr von den Taliban bereits einen längeren Zeitraum zurückliegt.

3. In Afghanistan existiert kein staatlicher Schutz vor den Taliban gemäß § 3d AsylG.

4. Eine Person, der Verfolgung durch die Taliban droht, kann nicht auf eine inländische Fluchtalternative verwiesen werden, da die Taliban dazu in der Lage sind, Personen in ganz Afghanistan aufzuspüren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Taliban, Desertion, interne Fluchtalternative, Drohvideo, Schutzfähigkeit, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3d, AsylG § 3e,
Auszüge:

[...]

21 Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. Der angefochtene Bescheid des Bundesamts erweist sich daher insoweit als rechtswidrig, war in dem ausgesprochenen Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). [...]

23 Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, da er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung durch die Taliban wegen seiner (jedenfalls vermeintlichen) politischen Überzeugung außerhalb seines Herkunftslands befindet und er im Fall einer Rückkehr weiterhin von Rachemaßnahmen bedroht ist. [...]

30 Das Gericht hält den Vortrag des Klägers insbesondere aufgrund der Vorlage des Videos für glaubhaft. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger von den Taliban konkret als Abtrünniger mit dem Tod bedroht wurde, sofern er nicht zu ihnen zurückkehren würde und diese Bedrohung auch weiterhin besteht.

31 Der Kläger hat zu dem Verfolgungsgeschehen in allen Verfahrensstadien nahezu vollständig übereinstimmende Angaben gemacht und bestehende Unklarheiten im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung ohne Zögern nachvollziehbar erläutert. Die Schilderung war in sich stimmig und nachvollziehbar, wenn auch an mehreren Punkten detailarm. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kläger (nach seinen eigenen Angaben) bereits in Afghanistan unter den Vorkommnissen psychisch gelitten hat und auch in der Bundesrepublik Deutschland weiterhin durchgängig aufgrund depressiver und zum Teil suizidale Stimmungslagen in Behandlung ist und  regelmäßig Medikamente nimmt, erscheint diese zurückhaltende, relativ emotionsfreie Darstellung jedoch nachvollziehbar und nicht zu Lasten des Klägers zu sprechen. [...]

32 Die Mitarbeit des Klägers für die Taliban wird schließlich auch durch das Video in dem der Kläger namentlich genannt und seine Teilnahme an Übungen und Training ausgeführt wird, bestätigt. Das Auswärtige Amt konnte zwar im Rahmen der Beweiserhebung keine Auskünfte zu dem in dem Video gezeigten Personen geben, bestätigte jedoch, dass die Taliban sogenannte "Trainingslager" in allen Provinzen Afghanistans betreiben würden und es sich bei dem im Internet frei zugänglichen Drohvideo um eine von den Taliban übliche Kommunikationsform handle. Wie in dem Video würden Familien aufgefordert, die Geflohenen zurückzuholen. Obwohl keine explizite Drohung ausgesprochen werde, werde eine implizite Drohung erschlossen. Im vorliegenden Fall enthielt das Video entsprechend der Übersetzung durch den Dolmetscher im Rahmen der mündlichen Verhandlung darüber hinaus jedoch die eindeutige Drohung, dass die fünf namentlich benannten Personen - darunter der Kläger - umgebracht werden würden, sofern sie nicht zurückkämen. Aufgrund dieser Ausführungen sowie dem persönlichen Eindruck des Gerichts von dem Video, welche auf Grund seiner Darstellungen und Inhalte schwer zu fingieren sein dürfte, geht das Gericht von der Authentizität des Videos aus. Auch an der Ernsthaftigkeit der in dem Video ausgesprochen Drohung durch die Taliban bestehen aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel keine Bedenken. [...]

36 Allerdings geht das Gericht davon aus, dass der Kläger weiterhin einer Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt ist. Dem Kläger kommt insoweit die Beweiserleichterung nach des Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zugute.

37 Es liegen keine stichhaltigen Gründe dafür vor, dass sich die Bedrohungslage für den Kläger zwischenzeitlich maßgeblich geändert hat. Auch wenn die Bedrohung bereits einen langen Zeitraum zurückliegt (vgl. hierzu BayVGH, U.v. 21.6.2013 - 13 a B 12.30170 - juris Rn. 29) und zwischenzeitlich auch - auch nach Angaben des Klägers - keine Bedrohungsmaßnahmen der Taliban gegenüber der Familie im Übrigen stattgefunden haben, liegen keine hinreichenden Gründe dafür vor, davon, dass auch für den Kläger persönlich keine konkrete Gefahr einer Verfolgungsmaßnahme mehr besteht. Nach den vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Taliban insbesondere aufgrund der religiösen Legitimierung ihres Herrschaftsanspruchs eine Abkehr von ihnen als Abfall vom Islam und damit besonders todeswürdiges Verbrechen erachten (OVG Lüneburg, U.v.28.7.2014 - 9 LB 2/13 - juris Rn. 17). Die Handlungsfähigkeit der Taliban besteht unverändert fort. Gezielte Tötungen haben im Laufe des Jahres 2019 und seit Beginn des Jahres 2020 stetig zugenommen. Dabei kommt es den Angriffen nicht darauf an, ausschließlich hochrangige Regierungsmitarbeiter zu treffen; einer erhöhten Gefährdung sind diejenigen ausgesetzt, die öffentlich gegen die Taliban Position beziehen (vgl. Lagebericht, Juni 2020, S. 17). Indem der Kläger sich von der Mitarbeit bei der Taliban abgewandt hat und auch dem Aufruf zur Rückkehr nicht gefolgt ist, ist davon auszugehen, dass der Kläger als politischer Gegner der Taliban wahrgenommen (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG) und von diesen dementsprechend auch weiterhin verfolgt wird.

38 Ein stattlicher Schutz im Sinne des § 3d AsylG vor den Taliban existiert in Afghanistan nicht. Auch gemäß dem aktuellen Lagebericht ist die Regierung auch in den von ihr kontrollierten Gebieten häufig nicht in der Lage, ihre Schutzverantwortung effektiv wahrzunehmen. Die Zentralregierung hat nur beschränkten Einfluss auf lokale Machthaber und Kommandeure, die häufig ihre Macht missbrauchen. In vielen Regionen Afghanistans besteht auf lokaler und regionaler Ebene ein komplexes Machtgefüge aus Ethnien, Stämmen, sogenannten Warlords und privaten Milizen, aber auch einzelner Polizei- und Taliban-Kommandeure (Lagebericht, Juni 2020, S. 6).

39 Der Kläger kann auch nicht erfolgreich auf eine inländische Fluchtalternative verweisen werden, § 3e AsylG. Denn die Taliban sind in der Lage, Personen, auf denen ihr besondere Fokus liegt, auch in ganz Afghanistan aufzuspüren (vgl. hierzu ausführlich OVG Sachsen-Anhalt, B.v. 7.5.2018 - 3L 84/18 - juris Rn. 14 ff.). Auch entsprechend dem aktuellen Lagebericht sind Taliban-Kommandeure durch ihre breiten Netzwerke und Allianzen jederzeit fähig, verfeindete Personen im ganzen Land ausfindig zu machen und gegebenenfalls zu verfolgen (Lagebericht, Juni 2020, S. 6). Es ist daher davon auszugehen, dass dem Kläger, insbesondere auch durch seine namentliche Nennung in dem Video, eine landesweite Verfolgung droht. [...]