VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 07.08.2020 - 1 A 3562/17 - asyl.net: M28750
https://www.asyl.net/rsdb/M28750
Leitsatz:

Prüfungsmaßstäbe für die Möglichkeit der Existenzsicherung bei Rückkehr ins Herkunftsland:

" 1. Die Kammer legt zugrunde, dass sich die COVID-19-Krise ernsthaft und nachhaltig auf Afghanistans Wirtschaft auswirken wird.

2. Fehlt dem Rückkehrer eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis (der mindestens Afghani­stan und den sprachlich sowie religiös-politisch verwandten Iran umfasst), weil er aus diesem Kulturkreis noch minderjährig ausgereist ist, kann eine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich nicht angenommen werden. Ausnahmsweise kann eine Durchsetzungsfähigkeit angenommen werden z.B. aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorischen, strategischen und menschlichen Geschicks oder einer besonderen Robustheit im Umgang mit roher Gewalt, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt.

3. Verfügt der (volljährige, gesunde, arbeitsfähige, männliche, eine Landessprache sprechende) Rückkehrer über eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis und hat dort wirtschaftlich und sozial auf eigenen Beinen gestanden, so ist seine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich dann anzunehmen, wenn aus Art und Weise der in der Vergangenheit im heimischen Kulturkreis gezeigten Existenzsicherung gefolgert werden kann, dass ihm eine Existenzsicherung in der Zukunft auch ohne bereits vorhandenes Netzwerk und auch unter Berücksichtigung der Folgen der COVID-19-Pandemie erneut gelingen wird. Anknüpfen kann diese Erwartung z.B. an eine im heimischen Kulturkreis in der Vergangenheit entfaltete unternehmerische Aktivität, vielfältige erfolgreiche Erwerbstätigkeiten oder die gezeigte Fähigkeit, hohe finanzielle Mittel aufzubringen.

4. In welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer ggf. auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, Familienangehörige, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, Netzwerk,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

53 cc) Ausgehend von der allgemeinen humanitären Lage geht die Kammer für die im Einzelfall unter Würdigung aller Umstände zu erstellende Gefahrenprognose von folgenden Grundsätzen aus:

54 Dem Rückkehrer nach Afghanistan droht dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche Behandlung, wenn er sein Existenzminimum an Nahrung, Hygiene und Unterkunft voraussichtlich nicht zu sichern vermag, da er weder allein die zur Befriedigung dieser elementaren Bedürfnisse notwendigen Beziehungen aufbauen könnte noch hinreichend von einem bereits vorhandenen Netzwerk unterstützt würde.

55 Eine Existenzsicherung ohne bereits vorhandenes Netzwerk setzt grundsätzlich voraus:

56 Zum einen muss der Rückkehrer volljährig, gesund, arbeitsfähig und – ausgehend von den sozialen Gegebenheiten des Zielstaats – männlichen Geschlechts sein sowie eine Landessprache (Dari/Farsi oder Paschto) hinreichend verstehen und sprechen. Diese Voraussetzungen entsprechen im Wesentlichen der obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. VGH München, Urt. 6.7.2020, 13a B 18.32817, juris Rn. 47; VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, A 11 S 2376/19, juris Rn. 11; VGH Kassel, Urt. v. 23.8.2019, 7 A 2750/15.A, juris Rn. 50; OVG Münster, Urt. v. 18.6.2019, 13 A 3930/18.A, juris Rn. 198; OVG Lüneburg, Urt. v. 29.1.2019, 9 LB 93/18, juris Rn. 55; auch VG Freiburg, Urt. v. 19.5.2020, A 8 K 9604/17, juris Rn. 40 ff.).

57 Zum anderen bedarf es, um die Erwartung zu tragen, dass der Rückkehrer sich aus eigener Kraft durchsetzen wird, nach Überzeugung der Kammer zusätzlicher Umstände. Auf dem Land (im ruralen Raum) bedarf er zur Existenzsicherung eines ihm zur Bewirtschaftung zur Verfügung stehenden Landbesitzes. In den Großstädten (im urbanen oder semi-urbanen Raum) muss er sich auf dem infolge der COVID-19-Pandemie besonders umkämpften Wohnungs- und Arbeitsmarkt allein behaupten und dafür notwendige Beziehungen knüpfen können.

58 Dabei folgt die Kammer nicht der Regel, dass eine Existenzsicherung nur dann zu erwarten wäre, wenn der Rückkehrer über erhebliche eigene finanzielle Mittel verfügt oder zu erwarten ist, dass er von Dritten erhebliche nachhaltige finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhält (so nun VG Hamburg, GB v. 10.8.2020, 4 A 7929/17, n.v., unter Bezugnahme auf: VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, 19 A 11909/17, juris Rn. 44 ff.; VG Cottbus, Urt. v. 29.5.2020, 3 K 633/20.A, juris Rn. 53; VG Freiburg, Urt. v. 22.5.2020, A 10 K 573/17, asylnet, S. 10; VG Karlsruhe, Urt. v. 15.5.2020, A 19 K 16467/17, juris Rn. 107; VG Düsseldorf, GB v. 5.5.2020, 21 K 19075/17.A, juris Rn. 271 ff.).

59 Fehlt dem Rückkehrer allerdings eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis (der mindestens Afghanistan und den sprachlich sowie religiös-politisch verwandten Iran umfasst), weil er aus diesem Kulturkreis noch minderjährig ausgereist ist, kann eine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich nicht angenommen werden. In diesem Fall kann ausgehend von der überragenden Wichtigkeit von Beziehungen für den Zugang zu Erwerbsmöglichkeiten und Obdach die Fähigkeit, ohne vorhandenes Netzwerk vor Ort die erforderlichen Beziehungen zu knüpfen, nicht unterstellt werden. Etwaige Rückkehrhilfen und humanitäre Hilfen ermöglichen einen gewissen zeitlichen Aufschub der zu befürchtenden Verelendung, vermindern die Wahrscheinlichkeit ihres Eintritts aber nur unwesentlich (insoweit VG Hannover, Urt. v. 9.7.2020, a.a.O., Rn. 45 ff.). Ausnahmsweise kann eine Durchsetzungsfähigkeit angenommen werden z.B. aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorisches, strategisches und menschliches Geschicks (vgl. hierzu VGH Mannheim, Urt. v. 29.11.2019, a.a.O., Rn. 113) oder einer besonderen Robustheit im Umgang mit roher Gewalt, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt (vgl. hierzu VG Hamburg, Urt. v. 30.1.2020, 1 A 886/19, n.v., in Deutschland aufgewachsener Intensivtäter).

60 Verfügt der (volljährige, gesunde, arbeitsfähige, männliche, eine Landessprache sprechende) Rückkehrer indessen über eine vollständige Sozialisation im heimischen Kulturkreis und hat dort wirtschaftlich und sozial auf eigenen Beinen gestanden, so ist seine Durchsetzungsfähigkeit grundsätzlich dann anzunehmen, wenn aus Art und Weise der in der Vergangenheit im heimischen Kulturkreis gezeigten Existenzsicherung gefolgert werden kann, dass ihm eine Existenzsicherung in der Zukunft auch ohne bereits vorhandenes Netzwerk und auch unter Berücksichtigung der Folgen der COVID-19-Pandemie erneut gelingen wird. Anknüpfen kann diese Erwartung z.B. an eine im heimischen Kulturkreis in der Vergangenheit entfaltete unternehmerische Aktivität, vielfältige erfolgreiche Erwerbstätigkeiten oder die gezeigte Fähigkeit, hohe finanzielle Mittel aufzubringen. Dass jedem Rückkehrer unabhängig von bereits vorhandenen Erfahrungen, Fähigkeiten oder Fertigkeiten die Verelendung drohen würde, kann nicht angenommen werden. Es gibt keine dahingehende Studie, die hinsichtlich der Anzahl der Untersuchten im Verhältnis zur Gesamtzahl der Rückkehrer aus dem westlichen Ausland belastbar wäre (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 12.12.2019, 9 LA 452/19, juris Rn. 15). Wer im heimischen Kulturkreis bereits das Leben eines Erwachsenen geführt und in der Vergangenheit vergleichbare Herausforderungen gemeistert hat, wie diejenigen, denen er sich gegenwärtig bei einer Rückkehr stellen müsste, wird voraussichtlich daran anknüpfen können.

61 Eine Existenzsicherung mit Hilfe eines Netzwerks ist wie folgt zu prüfen:

62 Der spezifische Bedarf, d.h. in welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag. Ein spezifischer Unterstützungsbedarf kann z.B. auf Krankheit, Behinderung, hohem Alter, fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, einer fehlenden vollständigen Sozialisation beruhen.

63 Der so ermittelte Unterstützungsbedarf muss voraussichtlich durch ein vorfindliches Netzwerk vor Ort gedeckt werden. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben.

64 Für in realitätsnaher Betrachtung allein zurückkehrende Frauen oder gemeinsam mit minderjährigen Kindern zurückkehrende Eltern steht eine Existenzsicherung ohne bereits vor Ort vorhandenes, zur Aufnahme fähiges und bereites Netzwerk grundsätzlich nicht zu erwarten. Der von diesem Netzwerk zu deckende Unterstützungsbedarf gemeinsamer Rückkehrer ist grundsätzlich vielfältiger und umfangreicher als bei alleinigen Rückkehrern und hängt auch von Anzahl und Alter der Kinder ab.

65 dd) Vor diesem Hintergrund ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass dem Kläger in Afghanistan eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK droht. Mit Hilfe seines familiären Netzwerkes wird der Kläger seine Existenz in Afghanistan auch weiterhin sichern können, sodass es hier nicht entscheidend darauf ankommt, ob er sich allein auf dem besonders umkämpften Wohnungs- und Arbeitsmarkt in Afghanistan behaupten und durchsetzen könnte.

66 Der Kläger verfügt über ein auffangfähiges und -bereites familiäres Netzwerk in Kabul. Er konnte dem Gericht insoweit hinreichend ausführlich berichten, dass er mit seiner Familie in regelmäßigem telefonischen Kontakt stehe. Zuletzt habe er mit ihnen vor drei Wochen gesprochen. Der Familie gehe es gut, trotz Quarantäne hätten sie "selbstverständlich" genug zu essen und sie könne, sollte es notwendig sein, dort ein Krankenhaus aufsuchen. Derzeit lebe die Familie von der Pension seines Vaters und in einem Mietshaus in Kabul. Sein Bruder habe die Schule beenden können, seine Schwester habe sogar die Universität besucht. Die Familie habe auch über Land verfügt, ob sie dies noch immer tue, wisse der Kläger nicht. Insgesamt hat der Kläger dem Gericht ein umfassendes Bild seiner Familie umschreiben können, das nicht den Eindruck vermittelt hat, dass diese bereits am Existenzminimum lebe und keine Kapazitäten mehr haben könnte, um den Kläger wieder aufzunehmen. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger einer besonders ausgeprägten Unterstützung seiner Familie bedarf. Zwar fehlt es ihm an Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt und er ist mit knapp siebzehn Jahren noch minderjährig aus seinem heimischen Kulturkreis ausgereist, d.h. er ist weitgehend, aber nicht vollständig dort sozialisiert. Im Übrigen ist er aber jung, männlich und arbeitsfähig. Er wird voraussichtlich infolgedessen primär einer Unterkunft sowie einer "Starthilfe" durch sein familiäres Netzwerk auf dem afghanischen Arbeitsmarkt bedürfen, zukünftig aber einen eigenen Beitrag zum familiären Einkommen leisten können. [...]