VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Beschluss vom 24.07.2020 - 3 D 1437/20 - asyl.net: M28756
https://www.asyl.net/rsdb/M28756
Leitsatz:

Unzumutbarkeit der Durchführung eines Visumsverfahrens aus familiären Gründen:

"Die Durchführung des Visumverfahrens kann unzumutbar sein, wenn die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, dem Kind daher ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht angedient werden kann und das Kind auf Grund seines Alters eine Trennung von dem Elternteil nicht wird verstehen können."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Visumsverfahren, nationales Visum, deutsches Kind, Zumutbarkeit, Familieneinheit, Eltern-Kind-Verhältnis, Kindeswohl,
Normen: AufenthG § 10 Abs. 3, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 28 Abs. 1, AufenthG § 5 Abs. 2, EMRK Art. 8, GG Art. 6
Auszüge:

[...]

Im Gegensatz zu der Wertung des Verwaltungsgerichts hält der Senat die Durchführung des Visumverfahrens für die Klägerin gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 2. Alt. AufenthG für nicht zumutbar, so dass selbst dann, wenn § 10 Abs. 3 AufenthG der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG entgegen steht, die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG geboten erscheint. Das für die Klägerin sprechende rechtliche Abschiebungshindernis, das Voraussetzung für eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ist, ergibt sich ebenso wie die Unzumutbarkeit der Durchführung eines Visumverfahrens aus Art. 6 GG und Art. 8 EMRK, die in Fällen wie den vorliegenden einwanderungspolitische Gesichtspunkte zurückdrängen. Es verstieße vorliegend nach der im Verfahren auf Gewährung von Prozesskostenhilfe gebotenen summarischen Prüfung gegen Art. 6 GG und Art 8 EMRK, die Antragstellerin auf die Durchführung des Visumverfahrens zu verweisen und damit eine längere Trennung von dem die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden, am 8. Januar 2018 geborenen Kind in Kauf zu nehmen. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK stellen in Fällen wie dem vorliegenden ein rechtliches Abschiebungshindernis dar, das auch die Ermessenentscheidung der Ausländerbehörde bindet. Dass die Durchsetzung der Ausreisepflicht in Fällen wie dem vorliegenden mit Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK unvereinbar sein kann, wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung anerkannt und hat auch für den vorliegenden Fall zu gelten (vgl. hierzu insbesondere VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 10.03.2009 - 11 S 2990/08 -, juris Rdnr. 29; Bay. VGH, Beschluss vom 06.08.2008 - 9 CE 08.781 -, juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 08.12.2008 - 8 LA 72/08 -, juris). [...]

Unzumutbarkeit ist anzunehmen, wenn - wie vorliegend - die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden kann, etwa weil das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, dem Kind daher ein Verlassen der Bundesrepublik Deutschland nicht angedient werden kann und das Kind auf Grund seines Alters eine Trennung von dem Elternteil nicht wird verstehen können. In diesen Fällen drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, einwanderungspolitische Belange regelmäßig zurück. Dies kann selbst dann gelten, wenn der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat (vgl. BVerfG, Beschl. vom 30. 01. 2002 - 2 BvR 231/00 -, NVwZ 2002, S. 849 <850> m.w.N.; Beschluss vom 31. 08. 1999 - 2 BvR 1523/99 -, NVwZ 2000, S. 59). Dabei kommt es nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht darauf an, ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. So wird der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters oder der Mutter nicht durch Betreuungsleistungen des jeweils anderen Elternteils oder dritter Personen entbehrlich, sondern kann eigenständige Bedeutung für die Entwicklung des Kindes haben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 08. 12. 2005 - 2 BvR 1001/04 - m.w.N.; BVerfG, Beschluss vom 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05; Hess. VGH, Beschluss vom 17. 06. 2013 - 3 B 968/13 -, juris Rdnr. 4).

Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Antragstellerin bzw. ihrer am 8. Januar 2018 geborenen Tochter, die die deutsche Staatsangehörigkeit innehat, sei es zumutbar, mehrere Wochen (oder Monate?) getrennt voneinander zu sein, wird ausdrücklich nicht gefolgt. Nach den unwidersprochen gebliebenen Aussagen der Antragstellerin lebt ihre Tochter D. seit ihrer Geburt im Januar 2018 bei ihr und wird ausschließlich von ihr betreut und versorgt. Zwar habe das Kind regelmäßig Kontakt zu dem Kindsvater, dem deutschen Staatsangehörigen E., die Kontakte hätten jedoch eher Besuchscharakter, eine gemeinsame elterliche Sorge bestehe nicht (Schriftsatz vom 30.01.2020, B. 34 GA). Unter diesen Umständen kann bereits nicht davon ausgegangen werden, dass eine Betreuung der Tochter durch den Kindsvater überhaupt gewährleistet werden könnte. Hierauf kommt es jedoch nach der zitierten Rechtsprechung des BVerfG, der die Vorsitzende folgt, auch nicht an, da die besondere Betreuungsleistung der Antragstellerin weder durch Betreuungsleistungen des Vaters, geschweige denn durch Dritte ersetzt werden kann. Dies hat insbesondere auf Grund der Tatsache zu gelten, dass die Tochter D. derzeit erst 2 Jahre und 7 Monate alt ist und eine längere Trennung von ihrer Mutter, die in ihrem bisherigen Leben die alleinige oder zumindest wesentliche Bezugsperson gewesen sein dürfte, nicht wird verstehen können.

Der Tochter D., die die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, ist es auch nicht zumutbar, gemeinsam mit der Mutter nach Nigeria zur Nachholung des Visumverfahrens aus- und wieder einzureisen. Insoweit kann auf die oben gemachten Ausführungen verwiesen werden. [...]