OVG Berlin-Brandenburg

Merkliste
Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17.08.2020 - 11 S 5/20 - asyl.net: M28763
https://www.asyl.net/rsdb/M28763
Leitsatz:

Beweiskraft einer eidesstattlichen Versicherung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren auf Erteilung einer Duldung:

Die eidesstattliche Versicherung der Eheleute über den Fortbestand ihrer Ehe ist zur Glaubhaftmachung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren geeignet, auch wenn sie einem Tätigkeitsbericht der Polizei über einen Abschiebungsversuch sowie früheren Angaben gegenüber der Polizei widerspricht - vorausgesetzt es gibt plausible Erklärungen für die abweichenden Angaben.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Glaubhaftmachung, eidesstattliche Versicherung, eheliche Lebensgemeinschaft, Duldung, einstweilige Anordnung,
Normen: AufenthG § 60a, VwGO § 123, ZPO § 418 Abs. 3, ZPO § 418 Abs. 1, ZPO § 415 Abs. 1, ZPO § 920, VwGO § 173,
Auszüge:

[...]

10 a) Diese eidesstattlichen Versicherungen sind nicht etwa – wie der Antragsgegner meint - wegen § 173 VwGO i.V.m. § 294 Abs. 2 ZPO unstatthaft. Denn im Rahmen eines einstweiligen Rechtsschutzverfahrens gem. § 123 VwGO sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bzw. deren tatsächliche Voraussetzungen (nur) glaubhaft zu machen (vgl. § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) und das Institut der Glaubhaftmachung gibt zugleich das Maß für die richterliche Überzeugungsbildung vor (dazu und zum Folgenden Buchheister, in: Wysk, VwGO, 3. Aufl. 2020, § 123 Rn 22 f.). Anders als im Hauptsacheverfahren ist keine vernünftige Zweifel ausschließende Gewissheit erforderlich, sondern es reicht ein Wahrscheinlichkeitsurteil. Das Maß der erforderlichen Wahrscheinlichkeit wird dabei sowohl durch die Folgen der zu treffenden Entscheidung als auch durch die Dringlichkeit der Angelegenheit, insbesondere das Gebot, effektiven Rechtsschutz zu gewähren, bestimmt. Das erforderliche Wahrscheinlichkeitsurteil kann sich das Gericht gem. § 123 Abs. 2 i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO auch auf der Grundlage eidesstattlicher Versicherungen bilden, wobei es im Rahmen der Beweiswürdigung zu entscheiden hat, ob es einer solchen Versicherung folgt oder nicht.

11 Davon ausgehend begründen die eidesstattlichen Versicherungen des Antragstellers und seiner Ehefrau, die durch die vorgelegte Erklärung der Kindertagesstätte vom 28. Januar 2020 ergänzt und gestützt werden, eine für das Eilrechtsschutzverfahren hinreichende Wahrscheinlichkeit des Fortbestands der familiären Lebensgemeinschaft des Antragstellers mit seiner Ehefrau und den zur Familie gehörenden Kindern. [...]

12 b) Der polizeiliche Tätigkeitsbericht über die am 6. August 2019 erfolgte Aufsuchung der Wohnung der Familie zwecks Abschiebung des Antragstellers vermag die Glaubhaftigkeit der in den eidesstattlichen Versicherungen geschilderten, eine andauernde familiäre Lebensgemeinschaft begründenden Umstände nicht durchgreifend zu erschüttern.

13 Bei diesem Tätigkeitsbericht handelt es sich zwar um eine öffentliche Urkunde i.S.d. § 415 Abs. 1 ZPO, die gem. § 418 Abs. 1 ZPO den vollen Beweis der darin bezeugten Tatsachen begründet, soweit diese auf eigenen Handlungen oder eigenen Wahrnehmungen beruhen (vgl. Feskorn in: Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 418 Rn 3). Davon ausgehend ist aufgrund dieser Urkunde allerdings nur belegt, dass der Antragsteller sich im maßgeblichen Zeitpunkt nicht in der Wohnung aufhielt, dass die Polizeibeamten zu diesem Zeitpunkt keine im Rahmen einer – nicht näher konkretisierten - "Umschau" feststellbaren Anhaltspunkte für dessen Aufenthalt festgestellt haben und dass die Ehefrau des Antragstellers ihnen gegenüber angegeben hat, dass sie keine Angaben zum Aufenthalt des Antragstellers machen könne, da sie seit zwei Monaten keinen Kontakt mehr zu ihm habe. Diese Umstände vermögen die Angaben des Antragstellers und seiner Ehefrau nicht zu widerlegen, wonach der Antragsteller zwar "zeitweise nicht zu Hause geschlafen" habe, weil er große Angst gehabt habe, durch eine Abschiebung von seiner Familie getrennt zu werden, dass er sich aber "die ganze Zeit" bzw. "durchgehend" dort aufgehalten habe und dies auch weiterhin tun werde. [...] Die inhaltliche Richtigkeit der im polizeilichen Tätigkeitsbericht vermerkten Angaben der Ehefrau ist – da sie ersichtlich nicht zu den eigenen Wahrnehmungen oder Handlungen der die Wohnung aufsuchenden Polizeibeamten gehört – von der Beweiskraft der Urkunde nicht umfasst (§ 418 Abs. 3 ZPO). [...]

14 c) Der Senat verkennt auch nicht, dass einerseits das erhebliche Interesse des unerlaubt eingereisten und sich auch Abschiebungsversuchen entziehenden Antragstellers an einem Verbleib im Bundesgebiet und andererseits die widersprüchlichen Angaben der Ehefrau gegenüber den Polizeibeamten und in ihrer hier vorgelegten eidesstattlichen Versicherung grundsätzlich geeignet sind, Zweifel an beider Glaubwürdigkeit zu begründen. Zweifel an der Richtigkeit der bekundeten Tatsachen ergeben sich daraus allerdings noch nicht, denn das mit allen – auch unzulässigen – Mitteln verfolgte Bemühen um einen Verbleib des Antragstellers im Bundesgebiet kann – wie von beiden behauptet – tatsächlich gerade durch den Schutz der nach den eidesstattlich versicherten Tatsachen weiter bestehenden familiären Lebensgemeinschaft motiviert sein. Angesichts der nicht durch gesicherte gegenteilige Erkenntnisse erschütterten Glaubhaftigkeit der eidesstattlich versicherten Tatsachen sowie der Strafbewehrung der Abgabe falscher eidesstattlicher Versicherungen genügen die im hiesigen Beschwerdeverfahren nicht vollständig auszuräumenden Zweifel an der Glaubwürdigkeit des Antragstellers und seiner Ehefrau im konkreten Fall jedenfalls nicht, um das für das Eilrechtsschutzverfahren erforderliche, angesichts der gegebenenfalls schwerwiegenden Folgen einer Abschiebung des Antragstellers für seine Frau und seine Kinder aber auch ausreichende Maß an Wahrscheinlichkeit für den Fortbestand der familiären Lebensgemeinschaft zu erschüttern. [...]

17 b) Ist – wie vorstehend ausgeführt – auf Grundlage des Beschwerdevorbringens sowie der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen jedenfalls für das Eilverfahren davon auszugehen, dass der Antragsteller weiterhin mit seiner Familie zusammenlebt und sich gemeinsam mit seiner Frau sowohl um seine beiden eigenen Kinder als auch um den älteren deutschen Sohn seiner Frau kümmert, ist auch seinem Antrag auf vorläufige Erteilung einer Duldung stattzugeben. Denn auf Grundlage der mit den eidesstattlichen Versicherungen glaubhaft gemachten Umstände erscheint es überwiegend wahrscheinlich, dass die Ausreise des Antragstellers für das zum Familienverband gehörende deutsche Kind einen nicht mit Art. 20 AEUV zu vereinbarenden faktischen Zwang zur Ausreise begründen würde. [...]