VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Urteil vom 21.08.2020 - 2 K 1561/16.A - asyl.net: M28786
https://www.asyl.net/rsdb/M28786
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für einen jungen Mann aus Afghanistan, der lange im Iran gelebt hat:

Aufgrund der Corona-Pandemie hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan noch einmal erheblich verschlechtert. Bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen ist jedenfalls dann ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK anzunehmen, wenn keine eigenen finanziellen Mittel vorhanden sind und eine nachhaltige materielle Unterstützung Dritter nicht erwartet werden kann.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, Corona-Virus, Abschiebungsverbot, Existenzgrundlage, humanitäre Gründe, Familienangehörige, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, alleinstehende Männer, Arbeitslosigkeit, Existenzminimum, faktischer Iraner,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

48 Anknüpfend hieran ergibt sich durch die derzeitige individuelle Situation des Klägers unter Berücksichtigung der aktuellen landesweiten schon seit längerem bestehenden desolaten Lebensverhältnisse in Afghanistan, die sich durch die weltweit aufgetretene Corona-Pandemie nochmals erheblich verstärkt haben sowie seiner familiären Situation, auch in Ansehung der ihm möglicherweise anfänglich zu gewährenden Rückkehrhilfen, ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK. [...]

72 Bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen sind aufgrund der aktuellen zuvor ausgeführten Situation in Afghanistan die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK in der Regel erfüllt, sofern diese Rückkehrer nicht über erhebliche eigene finanzielle Mittel verfügen oder zu erwarten ist, dass sie von Dritten erhebliche nachhaltige finanzielle oder andere materielle Unterstützung erhalten. Der spezifische Bedarf, d.h. in welcher Hinsicht und in welchem Umfang ein Rückkehrer auf Unterstützung durch ein Netzwerk angewiesen ist, kann grundsätzlich ausgehend davon bestimmt werden, welche Umstände fehlen, dass er nicht ohne Netzwerk seine Existenz zu sichern vermag. Ein spezifischer Unterstützungsbedarf kann z.B. auf Krankheit, Behinderung, hohem Alter, fehlenden Sprachkenntnissen, fehlenden Erfahrungen auf dem afghanischen Arbeitsmarkt, einer fehlenden vollständigen Sozialisation beruhen. Der so ermittelte Unterstützungsbedarf muss voraussichtlich durch ein vorfindliches Netzwerk vor Ort gedeckt werden. Die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft des Netzwerks sind nach den zur Verfügung stehenden sachlichen Mitteln und personalen Mitteln zu beurteilen. In Betracht kommt insbesondere, welche Unterstützungsleistungen das Netzwerk in der Vergangenheit geleistet hat und in welcher Weise sich die Ressourcen des Netzwerks verändert haben [...].

73 Waren Nahrungsmittel und andere Güter des Grundbedarfs, Wohnraum und Arbeitsmöglichkeiten bereits vor dem Auftreten der Corona-Krise derart knapp und daher umkämpft, dass es Personen mit erhöhter Vulnerabilität grundsätzlich nicht zumutbar war, sich den Risiken insbesondere bei der Suche nach einer ihren Bedürfnissen entsprechenden Unterkunft auszusetzen (so auch insbesondere VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 29. November 2019 - A 11 S 2376/19 juris Rn. 112), so gilt dies nunmehr aufgrund der landesweiten enormen negativen wirtschaftlichen Auswirkungen der Corona-Krise auch für Personen mit robuster Konstitution, sofern sie nicht auf erhebliche eigene finanzielle Ersparnisse oder vor Ort auf nachhaltige materielle Unterstützung Dritter zugreifen können. Denn es besteht die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass für einen Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne finanzielle Mittel selbst eine auch nur einfachste Lebensführung mit einer gegen Wind und Wetter schützenden Unterkunft nicht gewährleistet ist. Ist dies der Fall, besteht aber auch für Personen ohne erhöhte Vulnerabilität wie jungen, alleinstehenden und uneingeschränkt erwerbsfähigen Männern das reale Risiko, in einem kontinuierlichen Prozess zu verelenden und bleibende schwere physische und psychische Schäden davonzutragen. [...]

74 Das Gericht ist davon überzeugt, dass diese veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen aufgrund des Auftretens von Covid-19- Fällen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland in absehbarer Zukunft andauern werden. Selbst im Falle der Aufhebung von Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen ist aufgrund der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes nicht damit zu rechnen, dass sich die Situation in Kabul alsbald nach Aufhebung von Beschränkungen wesentlich verbessern wird. [...]