VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Urteil vom 04.03.2019 - 5 K 2879/16.A - asyl.net: M28813
https://www.asyl.net/rsdb/M28813
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender politischer Verfolgung in Vietnam:

Flüchtlingsanerkennung für einen vietnamesischen Geschäftsmann, der sich während einer Geschäftsreise (in Frankreich) in einer Diskussion kritisch über die vietnamesische Politik (z.B. Umweltschutz) geäußert hat, welche später ohne sein Wissen im Internet verbreitet wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Vietnam, Nachfluchtgründe, politische Verfolgung, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Amnesty International berichtet, dass die Menschenrechtslage in Vietnam derzeit besonders verheerend ist. Es handle sich um eines der unfreisten Länder der Welt (Amnesty International: Keine Fotos, bitte, 21. März 2018). Die Organisation Reporter ohne Grenzen listet Vietnam in ihrem Pressefreiheitsindex auf Rang 175 von 180 untersuchten Ländern. Das zuletzt besonders harte Vorgehen gegen Aktivisten hänge mit einem Machtwechsel in der Kommunistischen Partei zusammen, in der 2016 konservative Hardliner die Führung übernommen hätten. Insbesondere Bürgerjournalisten stünden im Visier der Behörden (Reporter ohne Grenzen: Kritiker über Facebook verfolgt, 13.12.2018).

Das Auswärtige Amt berichtet, dass öffentliche Kritik an Partei und Regierung [wird] nur innerhalb enger Grenzen toleriert werde. Regierungskritische Aktivitäten würden mit polizeilich-justiziellen Maßnahmen verfolgt. Gegen Mitglieder nicht registrierter Oppositionsgruppen oder Personen, die den umfassenden Führungsanspruch der KPV in Frage stellten, gehe die Regierung mit Härte vor (u.a. administrative Schikanen, Bedrohung, Nötigung, Sachbeschädigung, Körperverletzung durch gedungene Schläger, Verhaftungen, Hausarrest, ausgedehnte Verhöre, Internet- und Telefonstörungen, seit Ende 2016 zunehmend Verurteilungen zu langjährigen Haftstrafen nicht nur wegen "Propagandadelikten" und Vorwurf des "Umsturzversuchs", sondern auch wegen Störung der öffentlichen Ordnung und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte). Auch Freunde und Familien von Aktivisten geraten ins Fadenkreuz der Sicherheitsbehörden. Das Auswärtige Amt bestätigt, dass nach einem Rückgang formeller Verhaftungen und Anklagen seit 2013 seit Ende 2015 wieder mehr Oppositionelle inhaftiert und zum Teil zu langen Haftstrafen verurteilt worden sind und dass daneben Einschüchterung, administrative Repressalien und Umfeldbedrohung usw. zunehmen. Eine relativ ausführliche, teilweise auch kritische Medien-Berichterstattung habe bis vor Kurzem zur wirtschaftlichen Entwicklung, zu sozialen Missständen und den verstärkten Disparitäten zwischen Arm und Reich, Umweltproblemen sowie zu Minderheitenfragen stattgefunden. Auch hier werde aber das Vorgehen der Zensur- und Strafverfolgungsbehörden seit Mitte 2016 zunehmend repressiver. Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit seien in Vietnam massiven Beschränkungen unterworfen - vor allem wegen des aus Sicht der Regierung systemgefährdenden Charakters frei operierender Vereine und vermeintlich unkontrollierbarer Demonstrationen [Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam (Stand Oktober 2018), 14.12.2018]. [...]

Das neue Gesetz zur Kontrolle des Internets gilt seit Anfang 2019. Die britische Zeitung The Guardian bezeichnet es als totalitäres Instrument zur Kriminalisierung regierungskritischer Äußerungen und weist darauf hin, dass die Regierung seit 2016 die brutale und gewaltsame Verfolgung von Kritikern mit der Inhaftierung Dutzender Dissidenten intensiviert habe (The Guardian, Vietnam criticised for "totalitarian" law banning online criticism of government, Online-Ausgabe vom 02.01.2019). Die Deutsche Welle beschreibt das Gesetz als drakonische Maßnahme zur Einschränkung der Meinungsfreiheit, die u.a. alle Äußerungen und Aktivitäten im Internet, die sich gegen den Staat oder die Regierung richten, verbiete (Deutsche Welle, Hanoi setzt Gesetz zur Internetkontrolle um, Online-Ausgabe vom 01.01.2019). Amnesty International kommt zu der Einschätzung, dass das Gesetz den vietnamesischen Behörden ein weiteres Werkzeug in die Hand geben soll, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen und Menschen wegzusperren (Amnesty International, Bloggerin Me Nam ist wieder frei, 17.10.2018).

Dass die vietnamesische Regierung die Verfolgung von Regimekritikern intensiviert hat, bestätigen Berichte über den Umgang mit Bloggern, die sich regierungskritisch äußern. Human Rights Watch berichtet davon, dass Blogger und Rechtsaktivisten in einem Klima der Straflosigkeit verprügelt, bedroht und eingeschüchtert werden (Human Rights Watch, Vietnam: Angriffe auf Aktivisten und Blogger beenden, Online-Ausgabe vom 18.07.2017). Die BBC zitiert diese Organisation mit der Angabe, dass sich die Zahl der verurteilten Aktivisten und Blogger von 2015 auf 2016 verdreifacht habe und mindestens 19 Personen betroffen seien (BBC Vietnam army hires censors to fight "internet chaos", Online-Ausgabe vom 17.12.2017). Amnesty International berichtet, dass die wohl bekannteste Bloggerin, Nguyen Ngoc Nhu Quynh, die unter dem Namen Me Nam (Mother Mushroom bzw. Mutter Pilz) bekannt sei, am 29.06.2017 wegen "Propaganda" gegen den Staat zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden sei. Ihr sei vorgeworfen worden, über Facebook Kritik an der Regierung geäußert, Tötungen von Zivilisten im Polizeigewahrsam angeprangert und verzerrende Interviews mit ausländischen Medien geführt zu haben. Nach insgesamt über zwei Jahren Haft sei sie zwar im Oktober 2018 wieder freigelassen worden, jedoch sei dies an die Bedingung geknüpft worden, dass sie das Land verlasse (Amnesty International, 10 Jahre Haft für Bloggerin, 12.07.2017, Bloggerin Me Nam ist wieder frei, 17.10.2018).

Auch das Auswärtige Amt bezieht sich in seinem oben zitierten aktuellen Vietnam-Bericht auf das neue Gesetz zur Kontrolle des Internets, durch das 2004 eingeführte und bereits 2005 verschärfte Regeln mit Wirkung ab Januar 2019 noch einmal verschärft worden seien. Die Vorschriften verpflichteten Betreiber von Internet-Cafés, Internetprovider und Dienstleistungsanbieter, u.a. die Daten aller Internetnutzer zu erfassen und zu dokumentieren. Weiterhin seien alle Nutzergruppen sowie Internetbetreiber verpflichtet, Informationen, insbesondere über aus staatlicher Sicht "falsche" oder "gefährliche" Ereignisse und Inhalte, nicht im Internet zu verbreiten oder ggfs. zu löschen. Die neu geschaffenen Vorschriften eröffneten der Regierung und dem Sicherheitsapparat, vor allem aufgrund zahlreicher unbestimmter Rechtsbegriffe, weitreichende Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten. Das Verbreiten von Inhalten im Internet, die in Opposition zum Staat stehen bzw. die Einheit des Volkes zerstören, sei gemäß dem Cybersecurity Law 2018 strafrechtlich bzw. verwaltungsrechtlich zu verfolgen. Internationale Aufmerksamkeit hätten mehrere Festnahmen oder Verurteilungen von Bloggern zu zum Teil langjährigen Haftstrafen erfahren. Das vietnamesische Strafgesetzbuch lasse für "Propaganda gegen den Staat" Verurteilungen bis zu 20 Jahren zu, in einigen Fällen seien die Anklagen um den Vorwurf der "Durchführung von Aktivitäten zum Umsturz der Volksregierung" erweitert worden, wodurch der Strafrahmen bis zur Todesstrafe ausgedehnt worden sei. Das Auswärtige Amt ist allerdings auch weiterhin der Auffassung, dass exilpolitische Aktivitäten, mittlerweile betrieben von Gruppen vor allem in den USA, aber auch in Deutschland, Frankreich, Australien, zunehmend auch in Thailand und Taiwan, trotz weiterhin bestehender Kontakte dieser Gruppen nach Vietnam von der breiten vietnamesischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen werden. [...]