VG Greifswald

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Zitieren als:
VG Greifswald, Urteil vom 12.04.2018 - 6 A 2059/17 As HGW - asyl.net: M28818
https://www.asyl.net/rsdb/M28818
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen drohender Todesstrafe in Vietnam wegen Drogenhandel:

"Für einen vietnamesischen Staatsangehörigen, der mit mehr als 120 kg Marihuana gehandelt hat, kommt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung mit der Todesstrafe in Vietnam in Betracht, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde und dort bereits geahndet wurde."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Vietnam, Drogendelikt, Doppelverfolgung, Todesstrafe, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

28 Für einen vietnamesischen Staatsangehörigen, der mit mehr als 120 kg Marihuana gehandelt hat, kommt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Bestrafung mit der Todesstrafe in Vietnam in Betracht, auch wenn die Tat im Ausland begangen wurde und dort bereits geahndet wurde.

29 In drei Tatbeständen – § 193, § 194 und § 197 – des gegenwärtig geltenden Strafgesetzbuches der Sozialistischen Republik Vietnam vom 21. Dezember 1999 (StGB SRV) im Abschnitt der "Rauschgiftverbrechen" wird die Todesstrafe angedroht. So sehen §§ 193, 194 StGB SRV eine Bestrafung mit "bis zu 20 Jahren Gefängnis, lebenslangem Gefängnis oder Todesstrafe" für den Fall vor, dass bei der Tatbegehung bestimmte Mindestmengen überschritten wurden, wie etwa 5 kg bei Marihuana (Gutachten des Prof. Dr. Oskar Weggel vom 7. Oktober 2011 in dem Verfahren des VG Meiningen zu Az. 2 K 20200/10 Me, S. 3). Die Todesstrafe wird auch nach wie vor in Vietnam vollstreckt. So wurden nach erstmals veröffentlichten Zahlen zwischen Juli 2013 und Juli 2016 in Vietnam 429 Menschen hingerichtet. Das entspricht 143 Hinrichtungen jährlich und bringt Vietnam auf den fünften Listenplatz der Länder, in denen die meisten Todesurteile vollstreckt werden – knapp hinter Saudi-Arabien. Die Informationen sind in einem (möglicherweise versehentlich) veröffentlichten Regierungsbericht enthalten. Sie bestätigen vorangegangene Schätzungen (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam, Stand: Oktober 2017, S. 17). Die den vollstreckten Todesstrafen soll es sich hauptsächlich um die Vollstreckung von Urteilen wegen Drogenhandels handeln (so Gutachten des Prof. Dr. Oskar Weggel, a.a.O., S. 3).

30 Die Gefahr einer erneuten Verurteilung des Klägers und zwar konkret zur Todesstrafe droht auch im Fall des Klägers, obwohl er diese Tat nicht nur in Deutschland begangen hat, sondern in Deutschland dafür auch bereits bestraft wurde. Nach Art. 6 Abs. 1 StGB SRV können vietnamesische Staatsbürger, die im Ausland gegen Bestimmungen des StGB SRV verstoßen haben, in Vietnam zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden (vgl. Gutachten des Prof. Dr. Oskar Weggel, a.a.O., S. 3). Zur Anerkennung von Rechtskraft im vietnamesischen Recht führt Prof. Dr. Oskar Weggel, a.a.O., S. 4 f., aus:

31 "Rechtskraft ist eine Denkkategorie, die zumindest dem überkommenen, d.h. traditionellen vietnamesischen Verständnis genauso fremd ist wie andere aus dem Westen bekannte typisch formal-juristische Rechtsfiguren, z.B. juristische Fiktionen oder aber verfahrensrechtliche Konstruktionen à la 'Beweislast' (im Zivilverfahren) oder 'In dubio pro reo' (im Strafrecht). Worauf es stattdessen ankommt, ist nicht die formelle, sondern die materielle Wahrheit. […] Entsprechend diesem so wenig ausgeprägten Verständnis für formal-juristische Belange neigen vietnamesische Gerichte dazu, Fragen der 'Rechtskraft' und des 'Ne bis in idem' durch Abwägungen zwischen sozialpädagogischen und kriminalpolitischen Gesichtspunkten zu ersetzen."

32 Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, dass für die vom Kläger in der Bundesrepublik Deutschland begangene Tat in Vietnam die Strafandrohung der Todesstrafe besteht und der Kläger durch seine bereits erfolgte Verurteilung zu einer Strafhaft, die er auch in der Bundesrepublik Deutschland verbüßt hat, nicht vor einer erneuten Bestrafung durch die vietnamesische Justiz geschützt ist.

33 Diese Gefahr einer Verurteilung zum Tode und deren Vollstreckung in Vietnam, droht dem Kläger im Falle der Rückkehr auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht dann, wenn die für die Verhängung der Todesstrafe sprechenden Gründe ein größeres Gewicht besitzen, als solche Umstände, die gegen eine Annahme sprechen. Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Die Todesstrafe wird auf Delikte wie das vom Kläger begangene angewandt, unabhängig davon, ob er im Ausland schon bestraft worden ist. Die vom Kläger gehandelte Marihuanamenge übertrifft diejenige, ab der die Todesstrafe einschlägig ist, um ein Vielfaches. Von der Möglichkeit, einen individuellen Strafverzicht mit Vietnam zu vereinbaren, hat die Beklagte keinen Gebrauch gemacht. An dieser Einschätzung des erkennenden Gerichtes ändert auch der Vortrag der Beklagten, es sei nicht ersichtlich, dass die im Bundesgebiet erfolgte Verurteilung des Klägers seinen Heimatbehörden überhaupt bekannt würde, nichts. Diese allgemeine Aussage genügt nicht, da nicht gewährleistet ist, dass der vietnamesische Staat sich nicht über Vorgänge in Deutschland im Zusammenhang mit abgeschobenen ehemaligen Asylbewerbern informiert. Im Zusammenhang mit der möglichen Verfolgung exilpolitischer Tätigkeiten ist bekannt, dass das Personal der vietnamesischen Botschaft zwar kapazitätsmäßig nicht in der Lage ist, eine Überwachung aller Aktivitäten von in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Vietnamesen durchzuführen, dass sie aber z.B. bei positiver Kenntnis von exilpolitischer Tätigkeit durchaus entsprechende Überwachungsmaßnahmen durchführt (vgl. VG Meiningen, Urt. v. 20. Dezember 2011 – 2 K 20200/10 Me). [...]