BlueSky

VG Münster

Merkliste
Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 24.01.2020 - 4 K 534/18.A - asyl.net: M28831
https://www.asyl.net/rsdb/M28831
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Genitalverstümmelung und Zwangsheirat in Guinea:

"Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer Asylsuchenden aus Guinea kommt im Falle der Gefahr einer Zwangsbeschneidung und Zwangsheirat in Betracht."

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Guinea, Genitalverstümmelung, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, Flüchtlingsanerkennung, Frauen,
Normen: AsylG § 3,
Auszüge:

[...]

Diese Genitalverstümmelung ist eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne der. §§ 3 Abs. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil es sich um einen an das Geschlecht anknüpfenden gravierenden Eingriff in die körperliche Integrität der Klägerin mit ganz erheblichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen handelt (vgl. nur VG Düsseldorf, Urteil vom 15. August 2014 - 13 K 4740/13.A -, juris, Rdn. 45 f., m.w.N.).

Der Annahme einer Verfolgung steht auch nicht entgegen, dass die Beschneidung nicht vom guineischen Staat, sondern von nichtstaatlichen Akteuren ausging. Denn weder der guineische Staat, noch Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen in Guinea waren - und sind - willens oder in der Lage, die Klägerin im Sinne des § 3 c Nr. 3 AsylG vor der Genitalverstümmelung zu schützen (vgl. auch VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris; VG Aachen, Urteil vom 2. Februar 2016 – 3 K 1138/14.A -, juris, jeweils m.w.N.; ebenso österreichisches BVwG, Urteil vom 7. April 2015 – W121 1416841-2 -, abrufbar im Internet).

Die Beschneidung von Mädchen und Frauen ist in Guinea seit 1996 formell unter Strafe gestellt. Das straf - rechtliche Verbot wird jedoch lediglich in wenigen Einzelfällen umgesetzt mit der Folge, dass Guinea nach Somalia noch immer die höchste Beschneidungsrate der Welt hat und nach Schätzungen des VN-Hochkommissariats für Menschenrechte über 97 % der Frauen in Guinea beschnitten sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Guinea, Stand Mai 2019, S. 9 f.; VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris, m.w.N.). [...]

Nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin drohte ihr auch in Guinea eine weitergehende Genitalverstümmelung. [...]

Gegen eine drohende weitere Beschneidung der Klägerin spricht auch nicht, dass sie bereits im Kindesalter beschnitten worden ist. Soweit das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge insoweit in dem angefochtenen Bescheid ohne Anführung von Belegen ausführt, eine bereits erlittene Genitalverstümmelung "dürfte sich aus ihrer Natur heraus eher als einmaliger Initationsritus darstellen, der nach Vollzug keine dauerhafte Bedrohung darstellt", handelt es sich um eine nicht belegte pauschale Feststellung. Die Formulierung "eher" zeigt, dass es sich um eine nicht den konkreten Einzelfall berücksichtigende bloße Vermutung handelt. In der Sache unzutreffend ist die weitere Aussage in dem angefochtenen Bescheid, "darüber hinaus droht nach Erkenntnissen des Bundesamtes bezogen auf Guinea nach einer bereits vorgenommenen Genitalbeschneidung keine weitere, erneute FGM". Das Bundesamt hat auch diese Feststellung nicht näher begründet und die angeführten Erkenntnisse nicht offengelegt. Nach den der Kammer vorliegenden Erkenntnisquellen gibt es keine dahingehenden Anhaltspunkte. Vielmehr wird in Guinea ebenso wie in Gambia "nicht selten eine Zweitbeschneidung vor einer Hochzeit vorgenommen, wenn im Kindesalter 'zu wenig' beschnitten worden ist" (Zerm, Weibliche Genitalverstümmelung. Was müssen Kinder- und Jugendärzte über die genitale Beschneidung von Mädchen wissen? - Zahlen, Daten, Fakten, in: prädiat. prax 82 (2014), S. 59 (62), abrufbar im Internet). [...]

Der Einzelrichter ist weiter davon überzeugt, dass der Klägerin Guinea eine geschlechtsspezifische Verfolgung in Form einer Zwangsverheiratung drohte. Es handelt sich bei einer Zwangsverheiratung um eine geschlechtsspezifische Verfolgung im Sinne von §§ 3 Abs. 1, 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, weil sie eine Bedrohung von erheblicher Intensität der persönlichen Freiheit, des Selbstbestimmungsrechts auf Wahl des eigenen Ehepartners und der sexuellen Integrität bedeutet (vgl. nur VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris, m.w.N.). [...]

Vor diesem glaubhaften Hintergrund sowie der weitgehenden Untätigkeit des guineischen Staates bei drohender Genitalverstümmelung und auch bei familiärer Gewaltanwendung gegen Frauen und Kindern (Auswärtiges Amt, a. a. O.) ist auch nicht ersichtlich, dass sich die Klägerin einer erneuten Verfolgung dadurch entziehen kann, dass sie sich in sichere Teile des Staates Guinea begeben kann (§ 3 c Abs. 1 AsylG). Jedenfalls ist sie als Frau und erst recht nach der zu erwartenden Geburt ihres zweiten Kindes im September 2020 nicht in der Lage, sich und ihr Kind ohne familiäre Unterstützung in Guinea zu ernähren. Insoweit ist davon auszugehen, dass die Versorgungssituation in Guinea äußerst angespannt ist. Ein Großteil der Bevölkerung in Guinea lebt unter prekären wirtschaftlichen Bedingungen. Ca. 50 % der Bevölkerung lebt unterhalb der Armutsgrenze. Staatliche Unterstützung für bedürftige Personen ist nicht gegeben (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 13). [...]

Es lässt sich weiter nicht feststellen, dass die Klägerin bei einer Rückkehr hinreichende Hilfe durch Hilfsorganisationen in Guinea erhalten könnte. Nach dem Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Guinea/Conakry: Gefährdung bei Rückkehr einer Frau, vom 31. August 2004, gibt es zwar in Guinea Organisationen und Institutionen, die Frauen in verschiedenen Lebenslagen unterstützen. Sie sind jedoch nicht auf die Beschaffung von Arbeitsplätzen spezialisiert. Vielmehr führen sie Kleinstprojekte durch, die ggf. indirekt Arbeitsplätze schaffen können (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg vom 6. August 2004; VG Aachen, Urteil vom 2. Februar 2016 - 3 K 1138/14.A -, juris).

Zudem haben die Hilfsorganisationen beschränkte Kapazitäten (VG Hamburg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 6 A 6695/16 -, juris). Auch deshalb ist keine nachhaltige Unterstützung der Klägerin durch Hilfsorganisationen in Guinea gewährleistet. [...]