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VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Beschluss vom 04.09.2020 - 12 L 215/20.A - asyl.net: M28836
https://www.asyl.net/rsdb/M28836
Leitsatz:

Rechtswidrige Anhörung bei fehlender Identifizierbarkeit der dolmetschenden Person:

1. Wird bei der Anhörung im Asylverfahren ein ungeeigneter Dolmetscher eingesetzt, so ist das rechtliche Gehör verletzt. Kann oder will das BAMF die Identität des Dolmetschers gegenüber dem Verwaltungsgericht nicht offenlegen, so ist die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet offensichtlich rechtswidrig.

2. Die Ausreisefrist kann erst ab Rechtskraft des Ablehnungsbescheids zu laufen beginnen, da sonst das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bzw. die Waffengleichheit verletzt ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, rechtliches Gehör, Dolmetscher, natürliche Person, Identität, elektronische Aktenführung, Ausreisefrist, wirksamer Rechtsbehelf, EuGH, Unionsrecht, Anhörung, persönliches Gespräch,
Normen: AsylG § 36 Abs. 4 S. 1, AsylG 24 Abs. 1 S. 1, AsylG § 25, AsylG § 17, AsylG § 31 Abs. 1 S. 1, AsylG § 36 Abs. 3 S. 8, VwVfG § 37 Abs. 3 S. 2,
Auszüge:

[...]

Solche ernstlichen Zweifel bestehen hier, weil der angegriffene Bescheid auf einer verfahrensfehlerhaften Anhörung beruht (a), das Bundesamt maßgebliche Dokumente bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt hat (b) und schließlich die Abschiebungsandrohung nicht unionsrechtskonform ist und auch eine Heilung diese Unionsrechtsmangels nicht bewirkt worden ist (c).

a) Die Ablehnungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus begegnen ernstlichen Zweifeln hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit, weil sie nach Lage der Dinge verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind. Insbesondere auf einer Verletzung der Sachverhaltsaufklärungspflicht des Bundesamtes gemäß § 24 Abs. 1 S. 1 AsylG beruhende Bescheide können der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils entgegenstehen. Denn ohne korrektes Verwaltungsverfahren bestehen Zweifel an einem materiell-rechtlich zutreffenden Inhalt der Behördenentscheidung. So verhält es sich hier. [...]

Im Asylverfahren hat die Tätigkeit des Übersetzers und/oder Dolmetschers herausragende Funktion. Setzt das Bundesamt einen nicht geeigneten Dolmetscher oder Übersetzer ein, wird das Recht auf Gehör verletzt (vgl. Marx, a. a. O., Anm. 7 und 8 zu § 17 AsylG). [...]

Übersetzer kann nur eine individuell identifizierbare natürliche Person sein. Eine natürliche Person, die für das Gericht individuell identifizierbar ist und die bei der Anhörung des Antragstellers Übersetzungen entsprechend § 17 Abs. 1 AsylG vorgenommen hat, kann das Gericht angesichts der Weigerung der Antragsgegnerin, die entsprechenden Originalverwaltungsvorgänge des Bundesamtes vorzulegen oder die entsprechenden Daten zu übermitteln, nicht feststellen. Plausible Gründe für die unterlassene Vorlage und/oder Übermittlung der Akten und/oder Dokumente hat die Antragsgegnerin nicht vorgebracht. Der Einzelrichter hat die unberechtigte Weigerung der Behörde, die entsprechenden Unterlagen vorzulegen oder Daten zu über-mitteln, im Rahmen der Beweiswürdigung zu berücksichtigen (vgl. Kopp/Schenke Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 24. Aufl. 2018, Anm. 7 zu § 99 VwGO).

Da hier nach Lage der Dinge nicht festgestellt werden kann, dass das Bundesamt seine Verpflichtung aus § 17 Abs. 1 AsylG beachtet hat und somit eine Verletzung von § 24 Abs. 1 S. 3 AsylG - jedenfalls mit Verbindlichkeit für das Eilverfahren - an-zunehmen ist, bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des aufgrund einer bislang nicht ordnungsgemäß erfolgten Anhörung erlassenen Bescheides des Bundesamtes vom 25. Februar 2020. [...]

c) Die im angefochtenen Bescheid angedrohte Abschiebung in den Irak erweist sich als offensichtlich rechtswidrig, weil die Abschiebung für den Fall angedroht wird, dass der Antragsteller die Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides vom 25. Februar 2020 verlässt. Damit werden die Rechtsmittelfrist und die Ausreisefrist gleichzeitig in Lauf gesetzt. Die Rechtsmittelfrist und die Ausreisefrist dürfen indes nicht gleichzeitig laufen (vgl. BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 19/19 -, juris, Rn. 37). [...]

Von der Möglichkeit (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020, a.a.O., Rn. 54), die Vollziehung der Abschiebungsandrohung des streitbefangenen Bescheides vom 25. Februar 2020 auszusetzen, hat das Bundesamt keinen Gebrauch gemacht. Um einen unionsrechtskonformen Rechtszustand im Rahmen seiner Entscheidungsmöglichkeiten herbeizuführen, hat das Gericht daher die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen, mit der Folge der Aussetzung der Abschiebung aufgrund gerichtlicher Entscheidung.

Eine Herstellung der Unionsrechtskonformität durch Änderung des Bescheides vom 25. Februar 2020 ist durch das Bundesamt nicht wirksam erfolgt.

Gemäß § 31 Abs. 1 S. 1 AsylG ergehen die Entscheidungen des Bundesamtes schriftlich. Der Bescheid muss durch die Person, die ihn verfasst hat, unterzeichnet sein (vgl. Marx, Kommentar zum Asylgesetz, 10. Aufl. 2019, Anm. 3 zu § 31 AsylG, m.w. Nachweis).

Ein solcher schriftlicher Änderungsbescheid wurde gegenüber dem Antragsteller nicht erlassen. Das Bundesamt hat lediglich über das besondere elektronische Behördenpostfach im gerichtlichen Verfahren mit Dokument vom 11.03.2020 erklärt, "der Antragsteller wird aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO zu verlassen."

Es kann dahinstehen, wie das in der Formulierung zum Ausdruck kommende Verständnis der Antragsgegnerin ihres Verhältnisses zum Verwaltungsgericht zu bewerten ist und ob eine solche Formulierung geeignet ist, eine Unionsrechtskonformität herzustellen, denn die Erklärung des Bundesamtes im elektronischen Dokument vom 11.03.2020 erweist sich hinsichtlich einer Bescheidänderung als formunwirksam. [...]