OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 21.09.2020 - 19 A 1857/19.A (Asylmagazin 10-11/2020, S. 372 ff.) - asyl.net: M28854
https://www.asyl.net/rsdb/M28854
Leitsatz:

Wehrdienstpflichtige Frauen in Eritrea keine "soziale Gruppe":

1. Eine junge Frau, der Verfolgung aufgrund der Einberufung zum Nationaldienst oder aufgrund der illegalen Ausreise im wehrdienstpflichtigen Alter droht, hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, denn die Verfolgung knüpft nicht an Verfolgungsgründe im Sinne des § 3b AsylG an.

2. Zwar sind Frauen insbesondere im militärischen Teil des Nationaldienstes körperlicher und sexueller Misshandlung ausgesetzt. Diese Handlungen knüpfen jedoch nicht an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe nach § 3b Abs. 4 AsylG an, da es sich bei der Gruppe der Frauen im Nationaldienst nicht um eine soziale Gruppe handelt, die nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 b) AsylG von der restlichen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

(Leitsätze der Redaktion; Siehe zur Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung den Beitrag von Susanne Giesler und Sonja Hoffmeister im Asylmagazin 12/2019, S. 401ff.)

Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Militärdienst, Wehrdienstentziehung, Asylrelevanz, geschlechtsspezifische Verfolgung, Frauen, Berufung, sexuelle Gewalt, materielles Asylrecht, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

A. Eine der Klägerin im Rückkehrfall drohende Einberufung zum eritreischen Nationaldienst knüpft nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit an einen Verfolgungsgrund im Sinn der § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 und 2 AsylG an. Unterstellt man, dass ihr während einer Ableistung dieses Dienstes gezielte Eingriffe in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut drohen und diese als Verfolgungshandlungen im Sinn des § 3a AsylG zu qualifizieren sind, so fehlt es in ihrem Fall an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit sowohl dafür, dass der Staat Eritrea damit an eine ihr zugeschriebene politische Überzeugung anknüpft (Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG, dazu I.), als auch dafür, dass er damit an eine ihr zugeschriebene Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpft (Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, dazu II.). [...]

Demgegenüber liegt keine Sanktionierung einer politischen Überzeugung vor, wenn die staatliche Maßnahme allein der Durchsetzung einer alle Staatsbürger gleichermaßen treffenden Pflicht dient. Dies gilt insbesondere auch für Sanktionen, die an eine Wehrdienstentziehung anknüpfen, selbst wenn diese von totalitären Staaten verhängt werden. Es ist entscheidend, ob der Staat mit ihnen lediglich Angriffe auf seine Grundordnung abwehren, die Allgemeinheit vor Gefahren schützen, seinen Bestand wahren und die öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhalten will oder ob er gleichzeitig auch die Absicht verfolgt, den Betroffenen wegen seiner abweichenden Überzeugung oder wegen sonstiger flüchtlingsschutzerheblicher persönlicher Merkmale zu treffen. Indizien hierfür können ein unverhältnismäßiges Ausmaß der Sanktionen oder deren diskriminierender Charakter sein (BVerwG, Urteile vom 19. April 2018, a.a.O., Rn. 22, vom 6. Dezember 1988 - 9 C 22.88 -, BVerwGE 81, 41, juris, Rn. 8 (äthiopischer Staatsangehöriger eritreischer Abstammung) und vom 19. Mai 1987, a.a.O., Rn. 16).

Nach diesen Maßstäben drohen nationaldienstpflichtigen eritreischen Staatsangehörigen Verfolgungsmaßnahmen wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Anknüpfung an eine ihnen zugeschriebene politische Überzeugung. Das gilt auch für eine im Fall der Rückkehr drohende Bestrafung. Bei Gesamtbetrachtung und Würdigung des dem Senat vorliegenden Erkenntnismaterials zur aktuellen Lage betreffend die Frage, ob der Staat Eritrea mit einen Dienstpflichtigen treffenden gezielten Eingriffen in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut an eine ihm zugeschriebene oppositionelle politische Überzeugung anknüpft, besitzen die gegen diese Annahme sprechenden Indiztatsachen ein größeres Gewicht als diejenigen Umstände, die für die genannte Annahme sprechen. Gegen diese Annahme spricht, dass sich die den Nationaldienst in Eritrea betreffende Dienstpflicht nach Rechtslage und Praxis auf alle eritreischen Staatsangehörigen ohne Ansehung von individuellen Persönlichkeitsmerkmalen erstreckt (1.), dass sich keine an eine vermeintliche politische Überzeugung anknüpfende generell härtere Bestrafung von Deserteuren und Dienstverweigerern feststellen lässt (2.), dass der Nationaldienst in Eritrea inzwischen vorrangig der Entwicklung und Förderung der eritreischen Volkswirtschaft unter Einschluss ihrer staatsnahen Unternehmen dient (3.), die Flucht vor dem Nationaldienst in Eritrea insbesondere seit der unregulierten Grenzöffnung zu Äthiopien im Zeitraum von September bis Dezember 2018 zu einem Massenphänomen geworden ist (4.), und dass der Staat Eritrea deshalb bei Auslandseritreern aus ökonomischen Gründen auf den staatlichen Strafanspruch verzichtet, indem er ihnen Straffreiheit durch Unterzeichnung einer "Reueerklärung" und Zahlung einer "Diaspora-Steuer" gewährt (5.). Demgegenüber ist aktuell nur noch von geringerem Gewicht, dass der Staat Eritrea den Nationaldienst nach wie vor als "Schule der Nation" versteht und ihm dementsprechend eine besondere ideologische und politische Bedeutung beimisst (6.). Mit dieser Gesamtwürdigung folgt der Senat der einhelligen obergerichtlichen und inzwischen auch überwiegenden erstinstanzlichen Rechtsprechung, nach welcher der Staat Eritrea Dienstverweigerern und Deserteuren sowie deren Familienangehörigen eine gegnerische politische Überzeugung nicht ohne weiteres zuschreibt, sondern nur dann, wenn hierfür einzelfallbezogen besondere Anhaltspunkte vorliegen (7.). [...]

II. Der Klägerin droht die Gefahr gezielter Eingriffe in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut während einer Ableistung des eritreischen Nationaldienstes weiter nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen einer ihr zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgrund nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Entgegen der von einem Teil der erstinstanzlichen Verwaltungsgerichte, auch von der Vorinstanz im Verfahren (S. 9 ff. des Urteils) vertretenen Auffassung sind die "Frauen im Nationaldienst" des Staates Eritrea keine "bestimmte soziale Gruppe" im Sinn des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) RL 2011/95/EU, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG.

Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchstabe a) AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn dieser Vorschriften, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) Spiegelstrich 1 RL 2011/95/EU), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchstabe b) AsylG, Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) Spiegelstrich 2 RL 2011/95/EU). Als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 AsylG). Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG).

Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung müssen die mit den Buchstaben a) und b) gekennzeichneten Voraussetzungen des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 AsylG kumulativ erfüllt sein. Das selbstständige Erfordernis der "deutlich abgegrenzten Identität" schließt eine Auslegung aus, nach der eine "soziale Gruppe" im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinn des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG/Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird. Nach seinem insoweit eindeutigen Wortlaut greift auch § 3b Abs. 2 AsylG/Art. 10 Abs. 2 RL 2011/95/EU erst bei der tatsächlichen oder zugeschriebenen Zugehörigkeit zu einem der im jeweiligen Absatz 1 genannten Verfolgungsgründe, nicht hingegen schon für die Konstitution der "sozialen Gruppe" selbst (EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018 - C-473/16 -, NVwZ 2018, 643, juris, Rn. 30; BVerwG, Beschlüsse vom 23. September 2019 - 1 B 54.19 -, juris, Rn. 8, vom 19. Juni 2019 - 1 B 30.19 -, NVwZ-RR 2019, 1066, juris, Rn. 9 f., vom 15. April 2019, a.a.O., Rn. 9, und vom 17. September 2018 - 1 B 45.18 -, juris, Rn. 9, Urteil vom 19. April 2018, a.a.O., Rn. 29 ff.).

Nach diesen Maßstäben ist auch eine allein an das Geschlecht anknüpfende Verfolgung im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG nur dann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wenn die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird. Insofern gilt die Regelvoraussetzung, an welche § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 1 Buchstabe b) AsylG die Qualifizierung einer Personengruppe mit gemeinsamen Merkmalen als bestimmte soziale Gruppe knüpft, auch für die unveräußerlichen Merkmale des Geschlechts und der geschlechtlichen Identität nach Halbsatz 4.

Dieses Normverständnis ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut des Halbsatzes 4, wonach die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen "kann", wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft. Auch nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) Satz 4 RL 2011/95/EU werden geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe lediglich "angemessen berücksichtigt". Beide Vorschriften stellen mit diesen Formulierungen klar, dass die Merkmale des Geschlechts oder der geschlechtlichen Identität die Zugehörigkeit der betroffenen Person zu einer bestimmten sozialen Gruppe je nach den Gegebenheiten im Herkunftsland begründen können, dies aber nicht stets der Fall ist. Voraussetzung dafür ist vielmehr auch bei diesen beiden Merkmalen - ebenso wie bei dem Merkmal der sexuellen Orientierung -, dass die Personengruppe, deren Mitglieder das gleiche Geschlecht oder die gleiche geschlechtliche Identität haben, von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (So für das Merkmal der sexuellen Orientierung EuGH, Urteil vom 25. Januar 2018, a.a.O., Rn. 30).

Nach diesen Maßstäben lässt sich die Personengruppe der Frauen im Nationaldienst des Staates Eritrea nicht als bestimmte soziale Gruppe im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG qualifizieren. Insoweit fehlt es an der Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b) AsylG, dass diese Personengruppe in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hat. Es fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass sie von der sie umgebenden eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.

Für die Personengruppe aller Dienstverpflichteten im Nationaldienst des Staates Eritrea hat die höchstrichterliche und obergerichtliche Rechtsprechung eine Qualifizierung als bestimmte soziale Gruppe im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bereits mit überzeugenden Argumenten verneint. Insoweit fehlt es an der Voraussetzung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b) AsylG, dass diese Personengruppe in Eritrea eine deutlich abgegrenzte Identität hat, schon deshalb, weil die Dienstverpflichtung nach dem oben Ausgeführten praktisch ausnahmslos die gesamte erwachsene eritreische Bevölkerung gleichermaßen ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale trifft. Lässt sich aber die Personengruppe aller Dienstverpflichteten im Nationaldienst des Staates Eritrea von der eritreischen Gesellschaft gar nicht unterscheiden, fehlt es von vornherein an der erforderlichen gesell - schaftlichen Wahrnehmbarkeit dieser Personen als eigenständige Gruppe und damit an der Grundvoraussetzung dafür, ihnen eine an bestimmte Persönlichkeitsmerkmale anknüpfende Andersartigkeit zuzuschreiben (BVerwG, Urteil vom 19. April 2018, a.a.O., Rn. 36; Bay. VGH, Urteil vom 5. Februar 2020, a.a.O., Rn. 37).

Für die Personengruppe aller dienstverpflichteten Frauen im Nationaldienst des Staates Eritrea gilt Entsprechendes. Auch sie trifft die Dienstverpflichtung grundsätzlich ohne Ansehung ihrer Persönlichkeitsmerkmale. Soweit die oben festgestellten Ausnahmen für verheiratete Frauen, Schwangere und Mütter an ihre Eigenschaft als Frau und damit im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 4 AsylG allein an das Geschlecht anknüpfen, ist dies nicht Ausdruck einer abgegrenzten Gruppenidentität, sondern entspricht dem auch außerhalb des Nationaldienstes vorherrschenden traditionellen Rollenverständnis von Frauen in der überwiegend ländlichen Bevölkerung Eritreas, das vorwiegend von Kindererziehung, Haus- und leichterer Feldarbeit geprägt ist (AA, Lagebericht vom 27. Januar 2020, a.a.O., S. 16).

Diesem Rollenverständnis entspricht es außerdem, dass Frauen auch im militärischen Teil des Nationaldienstes oftmals, aber nicht ausschließlich, für Positionen wie Köchinnen, Reinigungskräfte, Wäscherinnen, Bürokräfte und persönliche Assistentinnen von Kommandeuren eingesetzt werden. Ebenso werden sie aber auch in Kampfeinheiten eingezogen. In allen diesen Positionen sind sie verletzlich gegenüber sexuellem Fehlverhalten ihrer Vorgesetzten. Eine Quelle berichtet, Kommandeure wählten die am besten aussehenden Frauen aus, um persönlich für sie zu arbeiten. Es gibt keine bekannten Regeln oder Richtlinien, die ein solches Verhalten von Kommandeuren gegenüber Rekrutinnen verbieten oder mit Strafe bedrohen, so dass für sie effektiv Straflosigkeit besteht. Dabei kommt sexuelle Ausbeutung durch Kommandeure in unterschiedlichen Kontexten und Umständen vor. Mehrere Quellen weisen darauf hin, dass einige Rekrutinnen versuchen, "harte" Aufgaben zu vermeiden, indem sie ihren Vorgesetzten sexuelle "Gefälligkeiten" anbieten, im Gegenzug für Sex eine einfachere Behandlung erhalten oder mit einer unpopulären Aufgabe (z.B. einem Einsatz an der Front) bedroht sind, wenn sie solche "Gefälligkeiten" nicht anbieten. Kommandeure fordern sexuelle Dienste von den ihnen zugewiesenen Rekrutinnen, manchmal unter Androhung harter Bestrafungen oder anderer Nachteile, um ein "gutes Verhältnis" zu ihrem Vorgesetzten aufrechtzuerhalten oder Bestrafungen zu vermeiden. Eine Quelle erwähnt, dass ein solcher Druck gelegentlich auch im zivilen Teil des Nationaldienstes vorkommt. Einige Quellen berichten auch von noch direkteren Missbräuchen. Auch von sexuellen Übergriffen im Militärausbildungslager Sawa wird berichtet (EASO, Eritrea-Report von September 2019, a.a.O., S. 38 f.; vgl. auch Hamb. OVG, Urteil vom 21. September 2018, a.a.O., Rn. 46 m.w.N.).

Diese Umständen lassen keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür erkennen, dass die Personengruppe aller dienstverpflichteten Frauen im Nationaldienst des Staates Eritrea schon unabhängig von der ihnen dort drohenden sexuellen Gewalt von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würde und daher eine deutlich abgegrenzte Identität besäße. Insbesondere genügt es dafür nicht, dass ein sexueller Übergriff an das unverfügbare Merkmal des Geschlechts der betroffenen Einzelperson anknüpft. Hieraus allein ergibt sich noch keine personenübergreifende abgrenzbare Identität aller Personen dieses Geschlechts. Ebenso wenig genügt es für die Annahme einer unabhängig von den beschriebenen sexuellen Übergriffen bestehenden abgrenzbaren Identität in der eritreischen Gesellschaft, dass Frauen, die während ihrer Dienstzeit im Nationaldienst außerehelichen Geschlechtsverkehr hatten und/oder sexueller Gewalt ausgesetzt waren, in der eritreischen Gesellschaft stigmatisiert sind (EASO, Eritrea-Report von September 2019, a.a.O., S. 39).

Die Frauen im Nationaldienst des Staates Eritrea sind aufgrund ihres Geschlechts in besonderer Weise der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt. Die Organisation des Nationaldienstes und die Straffreiheit für die Täter, die diese Übergriffe ermöglichen, treffen aber in gleicher Weise alle dienstverpflichteten Frauen und Männer und beruhen nicht darauf, dass Frauen oder Übergriffe gegenüber Frauen als andersartig betrachtet werden. Dementsprechend haben die einhellige obergerichtliche Rechtsprechung und ein Teil der erstinstanzlichen Rechtsprechung auch in Fällen dienstpflichtiger oder unterstellt dienstpflichtiger eritreischer Frauen zu Recht eine Anknüpfung an den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe nach § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verneint (OVG Saarland, Urteile vom 21. März 2019 - 2 A 10/18 -, juris, Rn. 21 (19-jährige Ledige), und - 2 A 7/18 -, juris, Rn. 27 (46-jährige Mutter); Hamb. OVG, Urteil vom 21. September 2018, a.a.O., Rn. 72 (23-jährige Mutter); VG Gelsenkirchen, Urteil vom 7. März 2018 - 1a K 4738/17.A -, juris, Rn. 79 ff. (19-jährige Ledige); VG Berlin, Urteil vom 1. September 2017 - 28 K 166.17 A -, juris, Rn. 57 (22-jährige verheiratete Mutter).

Demgegenüber erschöpft sich die von einem Teil der erstinstanzlichen Rechtsprechung vertretene Gegenauffassung der Sache nach in der Feststellung, dass die Personengruppe aller dienstverpflichteten Frauen im Nationaldienst des Staates Eritrea allein schon deshalb eine bestimmte soziale Gruppe im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) RL 2011/95/EU sein soll, weil eine Mehr- oder Vielzahl von Frauen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinn des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG/Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird (VG Schwerin, Urteile vom 6. Dezember 2019 - 15 A 205/19 SN -, juris, Rn. 27, und vom 5. April 2019 - 15 A 3569/17 As SN -, juris, Rn. 28 ff., im Ergebnis wohl auch Urteil vom 8. Dezember 2017 - 15 A 1278/17 As SN -, juris, Rn. 36; VG Münster, Urteile vom 21. Januar 2020 - 11 K 737/17.A -, S. 6 des Urteils (Vorinstanz zu 19 A 999/20.A), vom 23. Juli 2019 - 11 K 5586/16.A -, juris, Rn. 97 ff., und - 11 K 3969/16.A -, juris, Rn. 107 ff.; VG Düsseldorf, Urteile vom 12. Dezember 2019 - 6 K 3123/19.A -, S. 9 ff. des Urteils (Vorinstanz zu 19 A 333/20.A), und vom 30. April 2019 - 6 K 552/19.A -, S. 9 ff. des Urteils (Vorinstanz zu 19 A 2134/19.A); VG Arnsberg, Urteil vom 27. Juni 2018 - 12 K 3982/16.A -, juris, Rn. 58; VG Hamburg, Urteil vom 13. Februar 2019 - 19 A 984/18 -, juris, Rn. 59 ("soziale Gruppe der Frauen")).

Dies allein genügt am Maßstab der oben zitierten Grundsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung jedoch nicht, da danach, wie erwähnt, das selbstständige Erfordernis der "deutlich abgegrenzten Identität" eine Auslegung ausschließt, nach der eine "soziale Gruppe" im Sinn des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG/Art. 10 Abs. 1 Buchstabe d) RL 2011/95/EU allein dadurch begründet wird, dass eine Mehr- oder Vielzahl von Personen in vergleichbarer Weise von etwa als Verfolgungshandlung im Sinn des § 3a Abs. 1 oder 2 AsylG/Art. 9 Abs. 1 oder 2 RL 2011/95/EU zu qualifizierenden Maßnahmen betroffen wird. [...]