OVG Rheinland-Pfalz

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Zitieren als:
OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 18.10.2016 - 7 B 10201/16 - asyl.net: M28857
https://www.asyl.net/rsdb/M28857
Leitsatz:

Vergangene Täuschungshandlungen können für Aufenthalt bei nachhaltiger Integration im Ermessen berücksichtigt werden:

" [...] 2. Unabhängig davon, ob ein enges - auf gegenwärtige Täuschungen oder Verstöße gegen Mitwirkungs­leistungen des Ausländers beschränktes - Verständnis des Versagungsgrundes nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG [...] zwingend ist, können nicht mehr gegenwärtige Täuschungen oder Verletzungen der Mitwirkungspflicht zur Beseitigung von Ausreisehindernissen jedenfalls im Rahmen der nach § 25b Abs. 1 S 1 AufenthG [...] zu treffenden Ermessensentscheidung als mögliche Integrationsdefizite berücksichtigt werden [...].

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausbildungsduldung, Identitätstäuschung, Staatsangehörigkeit, Integration, Ermessen, Mitwirkungspflicht,
Normen: AufenthG § 25b Abs. 2 Nr. 1, AufenthG § 25b Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

4 Zutreffend weist der Antragsteller darauf hin, dass der zwingende Versagungsgrund gemäß § 25b Abs. 2 Nr. 1 Aufenthaltsgesetz – AufenthG – für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG nach der Gesetzesbegründung nur greift, wenn der Ausländer durch eine gegenwärtige Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch die Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung die Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (vgl. dazu BT-Drucks. 18/4097, S. 44: "Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, […]."). Unabhängig davon, ob dieses enge Verständnis des Versagungsgrundes nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG zwingend ist, hat das Verwaltungsgericht ausgehend von diesem durch die Gesetzesbegründung geprägten Norminhalt sodann auch keinen zwingenden Versagungsgrund zulasten des Antragstellers nach § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG angenommen, sondern vielmehr die zurückliegende, beinahe 14 Jahre andauernde, indes nicht mehr gegenwärtige Täuschung des Antragstellers über seine Identität und Staatsangehörigkeit als Ausnahmefall innerhalb der nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung berücksichtigt. Ob ein Ausnahmefall von der regelmäßig anzunehmenden Integration vorliegt, sobald die in § 25b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 5 AufenthG genannten Voraussetzungen gegeben sind, beurteilt sich allein danach, ob besondere, atypische Umstände vorliegen, die obschon des Eingreifens der Regelvermutung nach § 25b Abs. 1 Satz 2 AufenthG eine nachhaltige Integration widerlegen, weil im Einzelfall Integrationsdefizite festzustellen sind, die dazu führen, dass den erzielten Integrationsleistungen bei wertender Gesamtbetrachtung ein geringeres Gewicht zukommt (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 18 B 486/14 –, juris, Rn. 10).

5 Ein Widerspruch zum Wortlaut des Gesetzes besteht insoweit nicht. Insbesondere ist das Verwaltungsgericht unter Einbeziehung der einschlägigen Gesetzesbegründung, der zufolge trotz der Beschränkung in § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG auf aktuelle Mitwirkungspflichten "keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren" erteilt wird (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 44), und der bisher hierzu ergangenen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 18 B 486/14 –, juris, Rn. 11 ff.; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23. September 2015 – 2 M 121/15 –, juris, Rn. 10) zu Recht davon ausgegangen, dass die Regelung eines zwingenden Versagungsgrundes bei gegenwärtiger Täuschung (§ 25 b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG) keine Sperrwirkung für eine Berücksichtigung zurückliegender Täuschungen bei der nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu treffenden Ermessensentscheidung nach sich zieht. Mithin kann – wie das Verwaltungsgericht zutreffend folgert – ein schwerwiegendes Fehlverhalten in dieser Hinsicht deshalb, auch wenn es nicht aufrechterhalten wird, die Annahme einer nachhaltigen Integration im Sinne von § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausschließen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 21. Juli 2015 – 18 B 486/14 – juris, Rn. 8 ff; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23. September 2015 – 2 M 121/15 –, juris, Rn. 10; Zühlcke, HTK-AuslR/§ 25 b AufenthG/zu Abs. 2, Stand: 23.09.2016, Rn. 2; vgl. ferner: OVG RP, Beschluss vom 15. Juli 2015 – 7 B 10592/15.OVG –, n. v.).

6 Dass bislang keine höchstrichterliche Rechtsprechung zur Berücksichtigung nicht gegenwärtiger Täuschungen bei § 25b AufenthG vorliegt, steht der Belastbarkeit des zugrunde gelegten Normverständnisses auch im Eilverfahren angesichts der insoweit eindeutigen Gesetzesbegründung, die ausdrücklich keine Amnestie für jedes Fehlverhalten in den vorangegangenen Verfahren einräumt, und der übereinstimmenden obergerichtlichen Rechtsprechung hierzu nicht entgegen. [...]