Abschiebungsverbot wegen schlechter humanitärer Bedingungen im Sudan:
Abschiebungsverbot für einen jungen Sudanesen, der in Libyen geboren und aufgewachsen ist, wegen der aufgrund von innerstaatlichen und regionalen Konflikten sowie der Covid-19-Pandemie prekären humanitären Lage.
(Leitsätze der Redaktion)
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Die humanitäre Lage im Sudan hat sich nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.06.2020 (S. 6, 8) insgesamt deutlich verschlechtert und ist als besorgniserregend einzustufen: "Hauptursachen sind die hohe Armut, Vertreibungen aufgrund andauernder Spannungen in Darfur und der Grenzregion zum Südsudan (Süd-/Westkordofan, Blue Nile), chronische Ernährungsunsicherheit aufgrund klimatischer und sozioökonomischer Faktoren sowie die seit Beginn 2018 anhaltende Wirtschaftskrise. 60% der Bevölkerung ist, Angaben von UNICEF zu Folge, von extremer Armut betroffen, in Regionen wie Südkordofan oder Darfur teilweise sogar bis zu 90 %. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung gibt mindestens 75% der Einkünfte für die Sicherung der Ernährung aus, 2,4 Mio. Kinder sind von akuter Unterernährung betroffen (Daten des Welternährungsprogramms). Aktuell wird die Zahl der Menschen, die auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, von den UN-Organisationen mit 9,3 Mio. beziffert. Der deutliche Anstieg zum Vorjahr (plus 5,5 %) hängt in erster Linie mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation zusammen. Besonders betroffen sind die 1,9 Mio. Binnenvertrieben und 1,1 Mio. Flüchtlinge (hauptsächlich Südsudanesen und Eritreer, zuletzt zunehmend aber auch aus der Zentralafrikanischen Republik), die seit Jahren auf humanitäre Hilfe angewiesen sind." Auch schätzt das Auswärtige Amt die Versorgungslage ist in großen Teilen des Landes als kritisch ein (S. 25): Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie hat sich die Lage zunehmend verschärft, insbesondere für Tagelöhner, die nun noch schwerer Arbeit finden. Im Vergleich zu den Peripherien existiert in der Hauptstadt Khartum ein recht gutes Warenangebot. Über den zum Leben benötigten Mindestbedarf hinausgehende Güter sind aber auch hier für den Großteil der Bevölkerung kaum erschwinglich. Mehr als die Hälfte der sudanesischen Bevölkerung kann ihren täglichen Kalorienbedarf nicht mehr aus eigener Kraft decken, da ihnen die nötige Kaufkraft fehlt. Ein ausreichendes Nahrungsmittelangebot wäre verfügbar, aber ist für die meisten nicht bezahlbar. Diese Mangelernährung kann im Falle einer Covid-19-Erkrankung zu einem kritischen Krankheitsverlauf führen. Besonders betroffen sind die Krisenregionen, wo staatliche Daseinsvorsorge kaum oder gar nicht existiert." Diese Bewertung der humanitären Verhältnisse wird insbesondere durch das "United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs" (OCHA) gestützt, das in seinem "Sudan Situation Report" vom 06.07.2020 (S. 2) ausführt, dass im Sudan vor der Covid-19-Pandemie bereits etwa 9,3 Millionen Menschen auf humanitäre Unterstützung angewiesen gewesen seien. Jahre des Konflikts, wiederkehrende klimabedingte Katastrophen und Krankheitsausbrüche beeinflussten weiterhin das Leben und den Lebensunterhalt vieler Sudanesen. Hunderttausende seien von Lebensmitteluntersicherheit betroffen und das Land weise hohe Unterernährungsraten auf. Wegen der schwachen Wirtschaft seien mehr und mehr Menschen nicht mehr in der Lage ihr Grundbedürfnisse zu befriedigen, während die hohen Inflationsraten die Kaufkraft der Familien weiter verringerten.
Zwar besteht für Rückkehrer die Möglichkeit, durch die Internationale Organisation für Migration (IOM) unterstützt zu werden (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.06.2020, S. 26) sowie Sachleistungen und Reintegrationshilfen in Anspruch zu nehmen (vgl. Auskünfte des Auswärtigen Amtes an das VG Braunschweig vom 13.09.2018, S. 4 f., und vom 17.10.2018, S. 10 f.). Auch sammeln sich in Khartum - dem voraussichtlichen Zielort einer Abschiebung (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 28.06.2020, S. 27) - Angehörige bestimmter Stämme in einzelnen Stadtteilen, womit für Neuankömmlingen die Möglichkeit besteht, Anschluss zu finden, auch wenn sie nicht über unmittelbare verwandtschaftliche Verbindungen in der Hauptstadt verfügen (vgl. Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Braunschweig vom 13.09.2018, S. 6). Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die insbesondere aus Darfur stammenden Binnenflüchtlinge in Khartum einen erheblichen Anteil der Bevölkerung ausmachen, in Elendsvierteln ohne grundlegende Infrastruktur leben und mit Hilfsarbeiten zu überleben versuchen (vgl. European Asylum Office [EASO], Country of Origin Query Sudan, Non-Arab Darfuris in Khartoum, S. 2). Nach einem Bericht des OCHA aus Januar 2020 kämpfen die Menschen in städtischen Gebieten des Sudans aufgrund der Wirtschaftskrise zunehmend damit, überhaupt zurecht zu kommen. Zugleich - mithin noch vor der Covid-19-Pandemie - schätzte das OCHA die Anzahl der Menschen in Khartum, die einen Schritt vor einer "akuten Lebensmittelunsicherheit" stehen, auf etwa 793.000 (vgl. EASO, a.a.O, S. 3).
Vor dem Hintergrund der ausgeführten, deutlich verschärften humanitären Situation geht das Gericht davon aus, dass die Beantwortung der Frage, ob im Einzelfall zu erwarten ist, dass ein Rückkehrer im Sudan sein Existenzminimum sichern kann, erheblich davon abhängt, ob er auf familiäre Unterstützung oder sonstige persönliche Beziehungen zurückgreifen kann oder über eine Berufsqualifikation verfügt, die es ihm auch unter den nochmals deutlich schwierigeren wirtschaftlichen Verhältnissen erlaubt, eine existenzsichernde Arbeit zu finden.
2. Nach diesen Maßstäben bemessen, ist im Fall des Klägers bei einer Abschiebung in den Sudan ein die Sicherung des Existenzminimums in Frage stellendes Gefährdungsniveau zu erwarten. Zwar ist der 1992 geborene Kläger gesund und arbeitsfähig. Jedoch ist er mit den Verhältnissen im Sudan nicht vertraut und verfügt dort über keine verwandtschaftlichen Beziehungen oder sonstigen Kontakte, die ihn bei der Existenzsicherung unterstützen könnten. Der Kläger ist in Libyen geboren, hat dort bis zu seiner Ausreise nach Europa gelebt und ist nie im Sudan gewesen. Das Gericht hat - wie bereits dargelegt - keine Anhaltspunkte, an seinen diesbezüglichen Angaben zu zweifeln. Insbesondere das Fehlen landesspezifischer Kenntnisse wird dem Kläger das Überleben in den Elendsvierteln von Khartum erschweren. In anderen Landesteilen sind die humanitären Bedingungen nach den erläuterten Erkenntnismitteln größtenteils noch wesentlich schlechter, zumindest jedoch nicht besser. Hinzu kommt, dass der Kläger über keine hierfür förderliche Berufserfahrung oder -ausbildung verfügt, sondern lediglich ein Zahntechnikstudium begonnen, jedoch nicht abgeschlossen hat. Bei dieser Ausgangslage besteht bei einer Abschiebung in den Sudan angesichts der verschärften wirtschaftlichen und humanitären Situation nach Ansicht des Gerichts die erhebliche Gefahr, dass der Kläger dort nicht in der Lage sein wird, seine elementaren Grundbedürfnisse - Nahrung, Hygiene und Unterkunft - zu sichern. [...]