VG Osnabrück

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Zitieren als:
VG Osnabrück, Urteil vom 20.08.2020 - 4 A 304/17 - asyl.net: M28867
https://www.asyl.net/rsdb/M28867
Leitsatz:

Abschiebungsverbot hinsichtlich Nigeria wegen fehlender Existenzgrundlage:

Eine alleinerziehende Mutter mit Kleinkindern ist aufgrund der in Nigeria anzutreffenden Situation ohne Unterstützung durch Familie, Kirche o.ä. nicht in der Lage, das Existenzminimum für die Familie sicherzustellen. Staatliche Unterstützung ist nicht verfügbar. Die ohnehin prekären Verhältnisse haben sich aktuell durch die COVID-19-Pandemie noch erheblich verschärft.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Nigeria, Frauen, alleinerziehend, Existenzminimum, Existenzgrundlage, Corona-Virus, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Im Fall der Abschiebung der Kläger nach Nigeria liegt ein derartiger Ausnahmefall vor. Unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalles ist zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - anders als noch zum Zeitpunkt des ablehnenden Prozesskostenhilfebeschlusses vom 13. Februar 2020 - davon auszugehen, dass für die Kläger aufgrund der derzeit harten Existenzbedingungen in Nigeria die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG gegeben sind.

In Nigeria stellt sich die Situation wie folgt dar:

Die nigerianische Wirtschaft hat sich 2017 allmählich aus der schlimmsten Rezession seit 25 Jahren erholt, das BIP ist um 0,55 % gestiegen. Mehrere Faktoren haben dazu beigetragen, dass sich die nigerianische Wirtschaft seit Ende 2017 allmählich wieder erholt, unter anderem eine Steigerung der Erdölförderleistung, die Erholung des Erdölpreises und eine verbesserte Leistung von Landwirtschaft und Dienstleistungssektor. Im Jahr 2018 wurde ein Wachstum von 1,9 % erreicht (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, 20. Mai 2020, S. 55).

Haupteinnahmequelle des nigerianischen Staates ist mit etwa 80 % der Gesamteinnahmen die Öl- und Gasförderung. Zudem sind der (informelle) Handel und die Landwirtschaft von Bedeutung, die dem größten Teil der Bevölkerung eine Subsistenzmöglichkeit bietet. Die Industrie (Zentren im Südwesten, Südosten und Norden) leidet, auch wegen illegalen Abzapfungen der Stromleitungen und Umleitungen an Energiemangel und an Defiziten bei der Infrastruktur. Das BIP pro Einwohner betrug im Jahr 2017 laut Weltbank 1.994 $, ist aber ungleichmäßig zwischen einer kleinen Elite und der Masse der Bevölkerung verteilt. Weiterhin leben ca. 70 % der Bevölkerung am Existenzminimum (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: September 2019), 16. Januar 2020, S. 21).

Der Mangel an lohnabhängiger Beschäftigung führt dazu, dass immer mehr Nigerianer in den Großstädten Überlebenschancen im informellen Wirtschaftssektor als "self-employed" suchen. Die Massenverelendung nimmt seit Jahren bedrohliche Ausmaße an. Die Großfamilie unterstützt in der Regel beschäftigungslose Angehörige. Generell wird die Last für Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung vom Netz der Großfamilie und vom informellen Sektor getragen. Allgemein kann festgestellt werden, dass auch eine nach Nigeria zurückgeführte Person, die in keinem privaten Verband soziale Sicherheit findet, keiner lebensbedrohlichen Situation überantwortet wird. Sie kann ihre existenziellen Grundbedürfnisse aus selbstständiger Arbeit sichern, insbesondere dann, wenn Rückkehrhilfe angeboten wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, 20. Mai 2020, S. 56 f.).

Über 60 % der Nigerianer sind in der Landwirtschaft beschäftigt, in ländlichen Gebieten über 90 %. Der Agrarsektor wird durch die Regierung Buhari stark gefördert. Dadurch hat etwa der Anteil an Großfarmen zugenommen. Dabei ist das Potenzial der nigerianischen Landwirtschaft bei Weitem nicht ausgeschöpft (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, 20. Mai 2020, S. 55 f.).

Programme zur Armutsbekämpfung gibt es sowohl auf Länderebene als auch auf lokaler Ebene. Zahlreiche NGOs im Land sind in den Bereichen Armutsbekämpfung und nachhaltige Entwicklung aktiv. Frauenorganisationen, von denen Women In Nigeria (WIN) die bekannteste ist, haben im traditionellen Leben Nigerias immer eine wichtige Rolle gespielt. Auch Nigerianer, die in der Diaspora leben, engagieren sich für die Entwicklung in ihrer Heimat (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, 20. Mai 2020, S. 57).

Das Gericht hat im vorliegenden Fall die Überzeugung gewonnen, dass es der Klägerin zu 1.) als alleinstehende Schwangere und Mutter von bereits zwei kleinen Kindern, unter anderem dem Kläger zu 2.), auf Grund ihrer individuellen Voraussetzungen und konkreten Lebenssituation bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht möglich sein wird, ihrer Familie dort ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern. Insbesondere für alleinstehende Frauen mit mehreren kleinen Kindern ist die Situation in Nigeria nach der derzeitigen Erkenntnislage besonders schwierig. Frauen werden in der patriarchalischen und teilweise polygamen Gesellschaft Nigerias generell in vielen Rechts- und Lebensbereichen benachteiligt (Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand: September 2019), 16. Januar 2020, S. 14). Alleinstehende Frauen sind darüber hinaus vielen Arten von Diskriminierung ausgesetzt und durch das Merkmal "alleinstehend" vielfach stigmatisiert. Sie finden meist nur schwer eine Unterkunft und eine berufliche Tätigkeit in Nigeria, dies umso weniger, je geringer die Schul- bzw. Berufsausbildung ist. Da es in Nigeria kaum staatliche finanzielle oder soziale Unterstützung gibt, sind alleinstehende Frauen meist von finanziellen Zuwendungen durch die Familien, Nachbarn oder Freunde abhängig. Zwar ist es auch für den Personenkreis der alleinstehenden Frauen nicht unmöglich bzw. ausgeschlossen, sich eine wirtschaftliche Grundexistenz zu schaffen, so etwa im Südwesten des Landes und in den Städten, in denen alleinstehende Frauen eher akzeptiert werden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Nigeria, 20. Mai 2020, S. 46). Mancherorts existieren auch Hilfseinrichtungen bei verschiedenen Kirchengemeinden oder Nichtregierungsorganisationen, die verschiedene Hilfestellungen anbieten, deren Inanspruchnahme jedoch von dem persönlichen Wissen und Engagement der betroffenen Frau bzw. ihrer Zugehörigkeit zur dortigen Gemeinschaft abhängig ist.

Es ist daher zu erwarten, dass es der Klägerin zu 1.) mit ihren bald drei unehelichen Kindern bei einer Rückkehr nach Nigeria nicht gelingen wird, die genannten Bedürfnisse zu erfüllen und ein Leben oberhalb des Existenzminimums zu führen. Zwar war die Klägerin zu 1.) nach ihren Angaben vor ihrer Ausreise aus Nigeria als angestellte Friseurin tätig. Da diese Tätigkeit nunmehr jedoch bereits über elf Jahre zurückliegt, ist ein Anknüpfen an eine eigenständige berufliche existenzsichernde Tätigkeit im Fall einer Rückkehr nach Nigeria insofern nicht ersichtlich. Über eine andere Ausbildung verfügt die Klägerin zu 1.) nicht. Auch andere Tätigkeiten, die von Rückkehrerinnen und anderen Frauen in Nigeria regelmäßig ausgeübt werden (z.B. Flechten von Kunsthaarteilen auf öffentlichen Märkten, Eröffnung einer mobilen Küche, "mini-farming"), kann die Klägerin zu 1.), selbst wenn sie eine entsprechende Betreuungsmöglichkeit für ihre Kleinstkinder hätte, nicht in einem für bald insgesamt vier Personen ausreichendem Umfang wahrnehmen. Da die Klägerin zu 1.) seit elf Jahren nicht mehr in ihrem Herkunftsland war, ist sie zudem mit den dortigen Lebensumständen auch nicht mehr sonderlich vertraut. Das dürfte einen "Neustart" für sie in Nigeria ebenfalls erheblich erschweren. Die Klägerin zu 1.) kann zudem nach der Überzeugung des Gerichts nicht mit ausreichender familiärer Unterstützung rechnen. In der mündlichen Verhandlung hat sie zwar mitgeteilt, dass sowohl ihre Eltern als auch Geschwister in Nigeria leben und sie zu ihren Eltern auch noch Kontakt hat. Jedoch seien ihre Eltern bereits alt und könnten keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgehen. Sie würden daher von ihren Geschwistern versorgt, die allerdings selbst finanziell nicht gut aufgestellt seien. Vor diesem Hintergrund geht das Gericht davon aus, dass die Familie der Klägerin zu 1.) diese und ihre bald drei kleinen Kinder nicht in einem Umfang versorgen kann, der erforderlich wäre, um das zum Leben notwendige Existenzminimum sicherzustellen. Hinzu kommt, dass sich die ohnehin prekären Verhältnisse für Rückkehrerinnen mit kleinen Kindern in Nigeria aktuell durch die COVID-19-Pandemie weiter erheblich verschärft haben. Durch die wochenlangen Ausgangsbeschränkungen ist der für viele Nigerianer als Einnahmequelle bedeutende informelle Sektor teilweise zusammengebrochen (vgl. Spiegel-Artikel "Das ist nicht mehr mein Land, es ist wie die Hölle" vom 15. August 2020: www.spiegel.de/politik/ausland/aus-deutschland-zurueck-in-nigeria-das-ist-nicht-mehr-mein-land-es-ist-wie-die-hoelle-a-86571264-ac97-4a39-bd69-103830837e6d; Vorwärts-Artikel "Corona in Nigeria: Mangelnde politische Führung und schlechte Kommunikation" vom 14. April 2020: www.vorwaerts.de/artikel/corona-nigeria-mangelnde-politische-fuehrung-schlechte-kommunikation). Von der Möglichkeit der laut ihrem Mutterpass im vierten Monat schwangeren Klägerin zu 1.), das Existenzminimum für sich und ihre zwei kleinen Kinder im Alter von einem und vier Jahren zu gewährleisten, kann unter diesen Umständen nach Überzeugung des Gerichts nicht ausgegangen werden. [...]