VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Beschluss vom 24.04.2020 - 9 L 182/20.A - asyl.net: M28887
https://www.asyl.net/rsdb/M28887
Leitsatz:

Zulässigkeit der Stellvertreterehe ("by proxy") in Nigeria:

Auch eine in Nigeria nach islamischem Ritus in Abwesenheit beider Ehepartner angetraute Ehefrau und deren Kinder sind Familienangehörige im Sinne der Dublinverordnung. Eine so geschlossene Ehe steht unter dem Schutz des Art. 6 GG und nach summarischer Prüfung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren einer Abschiebung nach der Dublinverordnung entgegen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, religiöse Eheschließung, Nigeria, Stellvertreterehe, Familienangehörige, Abschiebungsanordnung, Suspensiveffekt,
Normen: AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylG § 26, VO 604/2013 Art. 2 g, GG Art. 6,
Auszüge:

[...]

Im Falle des Antragstellers liegt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art. 6 Abs. 1 und 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) vor. Der Antragsteller ist nach seinem Vorbringen nach islamischem Ritus mit Frau ... verheiratet. Diese Ehe dürfte dem Schutz des Art. 6 GG unterfallen. Der Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 ist nicht auf rein inlandsbezogene Ehen (und Familien) beschränkt, vielmehr umfasst er eheliche und familiäre Lebensgemeinschaften unabhängig davon, wo und nach Maßgabe welcher Rechtsordnung sie begründet wurden und ob die Rechtswirkungen des ehelichen oder familiären Bandes nach deutschem oder ausländischem Recht zu beurteilen sind (vgl. Leibholz/Rinck/Hesselberger in: Leibholz/Rinck, Grundgesetz, 79. Lieferung 10.2019, Art. 6 GG, Rn. 51).

Der Schutzbereich des Art. 6 GG ist danach berührt, jedenfalls solange die Gemeinschaft nicht dem das GG beherrschende Bild von Ehe und Familie widerspricht (vgl. Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 12. Mai 1987 - 2 BA 1226/83 -, BVerfGE 76, 1-83).

Dies dürfte vorliegend der Fall sein. Der nigerianische Staat sieht verschiedene Arten der Eheschließungen als wirksam an. Die nigerianische Verfassung erkennt die gesetzliche Ehe, die traditionelle Ehe und die islamische Ehe als gleichrangige Formen der Eheschließung an. In der Praxis werden diese Typen neuerdings häufig gemischt vorgefunden, wobei die gesetzliche (Zivil-)Ehe inzwischen insgesamt an Popularität gewonnen hat (vgl. insgesamt hierzu: Doma-Kutigi, Halima: Certification of Islamic Marriages in Nigeria: Realities, Challenges, and Solutions, in: EJIMEL (Electronic Journal of Islamic and Middle Eastern Law; Universität Zürich), Vol. 7 (2019) pp. 22-36).

Der Antragsteller hat zur Glaubhaftmachung seines Vorbringens, dass er in islamischer Ehe mit Frau ... verheiratet sei, ein Affidavit seines Cousins ... vom 13. September 2018 vorgelegt. Abgesehen von den starken grundsätzlichen Zweifeln an der inhaltlichen Richtigkeit solcher Bestätigungen (vgl. Doma-Kutigi, a.a.O., S. 33) fand danach eine Trauung des Antragstellers mit Frau nach islamischem Recht am ... in ... in Abwesenheit beider Parteien statt. Zwar ist die Ehe "in absentia" in Nigeria gesetzlich nicht anerkannt. Jedoch ist eine traditionelle Ehe "by proxy" (durch Ferntrauung) anerkannte Norm in Nigeria (vgl. Falade, Tomi: Artikel: Absentee Marriages: Based On Logistics, vom 9. September 2017, Independent (https://www.independent.ng/absentee-marriages-based-on-logistics/, Abruf: 20. April 2020).

Unbeschadet der Frage, ob die Trauung tatsächlich nach islamischem Recht wirksam ist, kann danach jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller und Frau ... jedenfalls "traditionell" - vom nigerianischen Rechtssystem anerkannt - aufgrund einer Ferntrauung miteinander verheiratet sind. [...]